Warum es sich lohnt, bei Verletzung noch mehr Verletzlichkeit zu zeigen

Jetzt erst recht

In Führungskräfte-Trainings arbeite ich hin und wieder mit Rollenspielen. Beim letzten Mal ist eine Teilnehmerin daran grandios gescheitert. Sie hat im simulierten Gespräch alles richtig gemacht hat und nahezu nichts von dem erreicht, was sie eigentlich wollte. Möglicherweise lag das daran, dass sie sich in ihrer Rolle als Projektleiterin verletzlich gezeigt hat. In der Simulation ging es u.a. um einen möglichen Rollenkonflikt mit einer befreundeten Mitarbeiterin. Sie hat das sensible Thema angesprochen, um damit eine Verbindung herzustellen. Ihre geschickte Gesprächspartnerin aber hat die vermeintliche Schwäche ausgenutzt, den Spieß umgedreht und ihr sämtliche Probleme zugeschrieben, die laut Rollenanweisung eigentlich auf das Konto der Mitarbeiterin gingen. Die arme „Projektleiterin“ geriet unter Beschuss und musste sich sarkastische und teilweise sehr verletzende Vorwürfe anhören.

Ich war schockiert. So hatte bislang noch niemand das Rollenspiel angelegt. So kam ich nicht umhin zu fragen:
Bedeutet die Bereitschaft, Verletzlichkeit zu offenbaren, dass man sich auch tatsächlich verletzen lassen muss? Kann man sich verletzlich zeigen und trotzdem vor Verletzungen schützen?

Verletzlichkeit ist zunächst einmal nichts weiter als die Tatsache, an bestimmten Stellen empfindlich und verwundbar zu sein. Trotzdem ist es kein Harakiri. Es ist weder eine Einladung zur Verletzung noch gibt es einen Automatismus, dass an der offenbarten Schwachstelle tatsächlich Schmerzen zugefügt werden müssen. Allerdings: Verletzlichkeit zu leben, birgt ein Risiko. Und mit Risiken kann man umgehen.
Im Projektmanagement etwa, in dem die Geschichte oben spielt, gibt es das Risikomanagement. Dabei werden zu Beginn eines Vorhabens mögliche Risiken analysiert, bewertet und Möglichkeiten zur Risikominimierung überlegt. In Puncto Verletzlichkeit heißt das für viele Menschen, diese erst gar nicht zur Schau zu stellen.

Auch wenn Verletzlichkeit in vielerlei Hinsicht Türen öffnet, halte ich das „dicht machen“ für einen durchaus akzeptablen Weg. Verletzlichkeit zu zeigen ist mit dem Vertrauen darauf verbunden, dass der andere mitfühlt, Zartheit respektiert und als etwas Verbindendes betrachten kann. Doch dieses Vertrauen hat nicht unbedingt jeder verdient. Es ist sinnvoll zu überlegen, wem, wann und wie verwundbar man sich zeigen will. Man kann skalieren, wie weit man sich öffnen will. Das minimiert Risiken und verleiht mehr Sicherheit. Zugleich ist die Güterabwägung oft mühsam und geht auf Kosten der Spontanität. Oberdrein gibt es eben keine absolute Sicherheitsgarantie.

Andere Menschen setzen daher stärker auf das Krisenmanagement. Hier geht es darum, sich vorab mit Handwerkszeug zu wappnen, mit dem man im Fall der Fälle handlungsfähig bleibt. Im Hinblick auf Verletzlichkeit könnte das heißen Verhaltensmuster einzuüben, mit denen man Grenzüberschreitungen stoppen und Aggressoren Einhalt gebieten kann.
Das naheliegendste Mittel ist dabei, schlicht „Stopp“ zu sagen, wenn andere verletzend werden. Das kann ausdrücklich erfolgen, aber auch indem man eine Pause vorschlägt, um Abstand zu gewinnen oder indem man in die Metakommunikation geht, also darüber spricht, wie man miteinander spricht. So hat die „freche Mitarbeiterin“ im Rollenspiel eingeräumt, dass ein deutliches Signal der Projektleiterin, den Ton nicht zu billigen ihre Vorwürfe gestoppt hätte. Grenzen aufzuzeigen muss nicht in den Kontaktabbruch führen, Im Gegenteil: Abgrenzung schafft Klarheit und macht greifbar, denn der andere weiß, wie weit er gehen darf.
Das gilt umso mehr, wo man sich mit dem Aufzeigen der Grenze noch verletzlicher zeigt als ohnehin schon. Wenn es gelingt auszudrücken, welchen Schmerz man gerade empfindet. Was genau Pein bereitet. Wie sehr man getroffen ist. Wenn man – jetzt erst recht – volles Risiko eingeht und quasi die andere Wange hinhält.

Diesen Schritt ist die Teilnehmerin in der Szene selbst nicht gegangen – wohl aber in der gesamten Übung: Sie hat sich einem Risiko ausgesetzt, indem sie die Rolle übernommen hat. Sie ist tatsächlich verletzt worden. Und sie hat in der Reflexion „die andere Wange hingehalten“: Sie hat benannt, wie schmerzhaft das Scheitern war und wie sehr sie sich schämt. Damit hat sie der Gruppe ein grandioses Lernerlebnis beschert.
Dieses Vertrauen hat die ganze Gruppe nicht ausgenutzt, sondern freundlich und wertschätzend willkommen geheißen. Und das Risiko der Verletzlichkeit hat sich voll ausgezahlt.


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