Vom Verletzen und verletzt werden

Frühjahrsputz

Neulich erreichte mich die SMS einer Freundin. Sie informierte mich darüber, dass sie gerade dabei sei, Frühjahrsputz zu machen und auch ihr Leben aufzuräumen. Bei dieser Gelegenheit sei sie ihr Adressbuch durchgegangen und lösche nun konsequent alle Kontakte von Menschen, mit denen sie im vergangenen Jahr nicht mindestens ein Treffen hinbekommen habe. Ich war offenbar so eine Karteileiche und flog raus. Das war zutiefst verletzend. Eine andere Freundin leistete mir Beistand. Sie hörte sich die ganze Geschichte an, auch meinen Unmut über mangelndes Verständnis, zunehmend unflätigere Beschimpfungen und rüde Ideen, auf die SMS zu reagieren, bis sie mich fragte: Wer ist hier eigentlich die Verletzte? Das brachte mich aus dem Schimpf-Konzept. War ich vielleicht tatsächlich nicht nur die Gekränkte, sondern auch Kränkende? Lässt sich das überhaupt klar auseinanderhalten? Und: Sind wir im Geschehen der Verletzung möglicherweise gefangen in einer Doppelrolle?

Die Psychologin Bärbel Wardetzki bezeichnet Kränkungen als relationales Geschehen, in dem die Beteiligten voneinander abhängig sind. Eine Kränkung und die dazu gehörende Reaktion gibt es nur bei einem Auslöser, also einem wie auch immer gearteten kränkenden Verhalten. Gleichzeitig kann es den Kränkenden als „Täter“ nur geben, wenn sich auch ein Gekränkter findet.
Das leuchtet ein, denn tatsächlich sind Menschen unterschiedlich verletzlich. Identisches Verhalten kann völlig verschiedene Reaktionen hervorrufen: Der eine reagiert gelassen auf die kurzfristige Absage eines Dates, der andere ist am Boden zerstört und wird wütend. Manche sind sauer, wenn angebotene Hilfe ausgeschlagen wird, andere akzeptieren ein „Nein, danke“ ohne weiteres.
Kränkender und Gekränkter sind also aufeinander verwiesen, sich dieser Tatsache aber oft nicht bewusst. Dazu kommt, dass Kränkungsreaktionen sich meist in einem Verhalten Bahn brechen, das wiederum verletzend für den anderen ist. So entsteht eine Dynamik, in der Täter- und Opferrolle nicht nur ständig wechseln, sondern auch miteinander verschmelzen. Wer aufgrund einer erlebten Verletzung wüste Beschimpfungen ausspricht oder aufs hohe Ross steigt, erscheint mehr als Aggressor denn als Angegriffener. Desgleichen, wer vielleicht aus Enttäuschung und Hilflosigkeit mit Kontaktabbruch droht oder diesen vollzieht. Meist tendieren beide Seiten dazu, die Verantwortung für die Verletzung dem anderen zuzuschreiben und sich selbst zum Opfer zu stilisieren. Genau damit aber werden beide zu Tätern. Selbst wenn die Übernahme der Opferrolle völlig passiv und ohne jede Aggression geschieht: Die eigentliche „Tat“ - sprich: Verletzung – liegt in der Schuldzuweisung und Ablehnung der Verantwortung für sich selbst.

Der Ausstieg aus dieser Dynamik ist schwer. Vor allem deshalb, weil er uns auf uns selbst zurückwirft. Weil wir uns selber einen Augenblick lang nicht ganz so wichtig nehmen dürfen, um uns dann wirklich um uns kümmern zu können. Die Verwicklung lässt sich nur lösen, wenn einer damit beginnt, das Verhalten des anderen nicht mehr persönlich zu nehmen und Missverständnisse aufzuklären.
Das ist leichter gesagt als getan, wenn man selbst angeschossen ist.
Ein kleiner erster Schritt könnte sein, sich immer wieder daran zu erinnern, dass auch der andere „nur“ verletzt ist und deshalb das gleiche verdient, wie wir: Ruhe und Fürsorge. Ein zweiter möglicher Schritt wäre, das Kränkungsgeschehen als Ganzes zu betrachten und von dort aus die Verantwortung neu zu verteilen. Wer die beschriebene Dynamik anerkennt kommt nicht umhin einzuräumen, zugleich „Täter“ und „Opfer“, Verletzender und Verletzter zu sein.
Der verletzende Teil in uns hat dann die Verantwortung, zunächst einmal anzuerkennen, dass sein Verhalten einen anderen getroffen hat. In der Verantwortung unserer verletzten Seite liegt es, die eigenen Wunden anzuschauen und zu heilen. Das bedeutet vor allem, die eigenen Gefühle und Bedürfnisse wahrzunehmen, zu akzeptieren und zu versorgen. Zu benennen, wonach man sich sehnt oder wovor man sich fürchtet.
Wer sich so selbst gut versorgt hat, kann dann – wieder aus der verletzenden Seite heraus – um Entschuldigung bitten und so einen Beitrag zur Heilung der Wunden des anderen leisten, vorausgesetzt der andere ist schon bereit, dies anzunehmen.
Ich schätze, ich habe demnächst jede Menge zu tun. Frühjahrsputz für die Seele gewissermaßen. Gott sei Dank habe ich Hilfe: Eine Freundin, die mir liebevoll unter die Arme greift.


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