Ich habe eine Freundin. Die ist Mitte Vierzig und frisch verliebt. Beim letzten Treffen schwärmte sie jubelnd von ihrem neuen Freund. „Er ist so toll! Er sieht so super aus! Er ist alles, was ich immer ersehnt habe! Ich lasse meine Arbeit liegen, kenne keine Müdigkeit und Hunger habe ich auch nicht mehr! Ich bin völlig verrückt nach ihm!“ Ich beglückwünschte sie zu diesem rauschhaften Zustand, der aus meiner Sicht in wirklich jeder Hinsicht beneidenswert ist. Ich wollte gerade starten, auf der Wolke der Leidenschaft mit ihr zu fliegen, als sie fröhlich sagte. „Neulich hab ich ihm sogar 2000 Euro geliehen. Ich weiß, das macht man nicht. Aber ich konnte einfach nicht anders.“
Die Wolke war verpufft. Mein Kopf meldete sich mit wilden Phantasien von Heiratsschwindlern und all den Warnungen meiner Eltern, niemals irgendjemandem Geld zu leihen. Meiner Freundin schien das alles egal zu sein. Wie konnte es sein, dass diese kluge Frau plötzlich so unvernünftig war? Und während sie begann, darüber zu sinnieren, ob man in unserem Alter bei einem Rendezvous Overknees zu einem Ledermini tragen kann, kam ich nicht umhin zu fragen: Raubt uns Leidenschaft buchstäblich den Verstand?
Bei den meisten Philosophen kommt die Leidenschaft nicht besonders gut weg. Auch wenn kaum bestritten wird, welch schöpferische Kraft in ihr steckt, gilt sie den meisten als Wahn, Krankheit oder Sucht. Leidenschaft ist eruptiv. Sie bemächtigt sich des Menschen und versetzt ihn in einen suchtartigen Ausnahmezustand. Nachweislich lassen sich in Leidenschaft Entflammte immer wieder zu Dingen hinreißen, die bar jeder Vernunft sind. Menschen schwören sich nach einer miteinander verbrachten Nacht ewige Treue, ruinieren ihre Gesundheit oder ihre Altersvorsorge. Kein Wunder, dass die Emotion, die laut Kant eine „durch die Vernunft des Subjekts schwer oder gar nicht bezwingliche Neigung“ ist, all jenen als Bedrohung erscheint, die die Vernunft als das beherrschende Ideal betrachten. Bedeutet aber die Aussage, dass die Vernunft die Leidenschaft nicht beherrschen kann auch umgekehrt, dass Leidenschaft die Vernunft ausschaltet?
In jedem Fall gibt es Anzeichen, die diesen Gedanken nahelegen.
Leidenschaft ist gierig und unersättlich. Sie verlangt nach Wiederholung. Damit einher gehen oft irrationale Verlustängste, z.B. wenn der begehrte Mensch kurz aus dem Blickfeld gerät oder sich nur fünf Minuten später meldet als gewöhnlich. Die Gewissheit, dass es ein Morgen gibt, an dem man sich wieder hört und sieht, geht verloren.
Leidenschaft idealisiert. In der Phase der ersten Verliebtheit ist alles am anderen phantastisch. Leidenschaft ist das Photoshop der Seele. Man sieht und spürt die kleinen und großen Makel nicht, und wenn doch, so werden sie weichgezeichnet und ausgeblendet. Der Verstand wird ausgeschaltet, wo er der Leidenschaft im Weg steht. Alles wird passend für das Idealbild gemacht. Wo Außenstehende einen Durchschnittstypen sehen, erkennen leidenschaftlich Entflammte ein Model.
Leidenschaft lässt uns wider besseres Wissen und entgegen jeder Moral handeln. Im Rausch der Leidenschaft werden nicht nur Prinzipien über den Haufen geworfen, sondern so gedrechselt, dass Menschen ihr anstößiges Verhalten nicht nur nicht schlecht, sondern nachgerade gutheißen. Unrechtsbewusstsein war gestern, heute ist Rechtfertigung.
Leidenschaft führt zur Auflösung der beherrschten Person und schwemmt Seelenanteile nach oben, die normalerweise gut versteckt im Dunkeln liegen, weil sie wenig gesellschaftsfähig sind. Und so kann man wohl
mit Blaise Pascal sagen: Noch bevor unser Kopf Argumente aufführen kann, hat das Herz schon solche genannt, die die Vernunft nicht kennt. Offensichtlich setzt Leidenschaft den Verstand in einigen Fällen tatsächlich außer Kraft. Das lodernde Herz brennt den Kopf leer und übernimmt die Führung.
Dennoch bin ich überzeugt, dass Leidenschaft, bei aller Unvernunft, immer auch etwas ganz und gar Vernünftiges, weil Lebenserhaltendes hat.
Leidenschaft befreit aus der Eintönigkeit., die uns Menschen versteinern lässt. Sie ist Energiequelle, die uns über uns selbst hinauswachsen lässt. Sie schwört uns ein auf ein Ziel und lässt uns darüber uns selbst vergessen. Diese selbstvergessenen Momente sind Augenblicke, die uns den Himmel aufschließen können. So gesehen erscheint es mir sogar sehr vernünftig, hin und wieder unvernünftig zu sein.
Als leidenschaftliche Fürsprecherin der Leidenschaft kann ich meiner Freundin nur ganz unvernünftig sagen: Es ist völlig ok, dass Du Geld verliehen hast. Du wirst es bereuen, aber es ist ok. Nur die Sache mit den Overknees zum Ledermini, die geht gar nicht. In keinem Alter. Leidenschaft hin oder her.