Von Leidenschaft und Idealbildern

Leidenschaft macht blind

Neulich habe ich an dieser Stelle von meiner verliebten Freundin berichtet. Die gute Nachricht zuerst: Sie ist noch immer schwer verliebt. So sehr, dass sie dem Mann schon wieder Geld geliehen hat und dass modische Fehltritte (Stichwort: Overknees zum Ledermini) sich häufen. Als Freundin habe ich mich bislang für Peinlichkeiten im Stillen fremdgeschämt und ansonsten zu diesem Wahnsinns-Mann gratuliert. Sie sagt, er sehe aus wie George Clooney. Und offenbar macht er sie sehr glücklich.

Nun die schlechte Nachricht: Ich habe den Knaben kennen gelernt. Er hat genau null Ähnlichkeit mit George Clooney – er trinkt nicht mal Kaffee! – hat einen schlaffen Händedruck, keine eigene Wohnung (er wohnt bei Mutti!) und absolut keinen Plan, was er nach seiner Promotion im zarten Alter von 50 beruflich machen möchte.

Ich halte meiner Freundin zugute, dass ihr Status und Geld egal sind und dass ein Mann ja auch nicht wirklich wie George Clooney aussehen muss. Das hielte man ja nicht aus. Dennoch muss ich mich wundern:

Entweder ist „Wahnsinns-Typ“ ein extrem dehnbarer Begriff - oder Leidenschaft macht nicht nur unvernünftig, sondern auch blind.

Laut Kant ist Leidenschaft „die Neigung, durch welche die Vernunft gehindert wird, sie, in Ansehung einer gewissen Wahl, mit der Summe aller Neigungen zu vergleichen“. Etwas vereinfacht gesagt: Wer frisch verliebt ist hat nur Augen für den Partner. Traumfrauen oder Traummänner im Umfeld von Verliebten haben keine Chance. Alle Sinne sind auf den begehrten Menschen gerichtet. In Leidenschaft Entbrannte frönen der Ausschließlichkeit. Sie brauchen nur einander, versinken im eigenen Universum und vergessen den Rest der Welt. Mit diesem Tunnelblick macht Leidenschaft blind.  Das erklärt, warum meine Freundin den attraktiven Mann am Nachbartisch gar nicht gesehen hat. Die Tatsache aber, dass sie ihren Schlurchi so aufregend findet, hat damit zu tun, dass Leidenschaft auch idealisiert. Das Objekt der Begierde wird nicht nur überhöht, es wird auch nur ein kleiner und besonders schöner Ausschnitt von ihm betrachtet. Für meine verliebte Freundin bleibt ihr Mann ein Held und Abbild von George Clooney, ganz egal, was ich sage.

Der Begehrte zeigt sich dem Begehrenden in seinem besseren Selbst. Und die Antennen des Begehrenden sind ausgerichtet auf alles, was zum eigenen Wunschbild passt. Diese Wunschbilder sitzen fest, sie sind Projektionen unserer Sehnsüchte. Wir nutzen die kleinsten Anhaltspunkte, um aus Sehnsucht und Leidenschaft ein Stückchen idealer Wirklichkeit zu kreieren.

Nietzsche sagt, dass Idealisierung der Realität nicht standhält, dass Ernüchterung immer folgen muss, dass man folglich aus dem Moment der Leidenschaft heraus weder ewige Liebe noch ewigen Zorn schwören sollte.

Ist Idealisierung aus Leidenschaft und alles, was aus ihr erwächst, damit nur eine Lüge? Sollte man Leidenschaft besser gar nicht erst aufkommen lassen, weil sie unaufrichtig macht und Leid bereitet?

Ich finde, das sollte man nicht, denn die Idealisierung hat durchaus gute Seiten:

Wer idealisiert wird, erfährt Bestätigung des idealen Selbst und kann sich selbst leichter lieben. Gegenseitige Idealisierung macht Partner stark. Der Glaube an das Fantastische im anderen hilft zu wachsen und zu wagen, was fantastisch ist. Das Risiko des Fehlschlags ist gering, schließlich werden auch Niederlagen weich gezeichnet. Genau genommen ist die leidenschaftliche Idealisierung sogar eine Form des Reframings: Aus dürr wird zart, aus feist wird stattlich, aus eigensinnig kapriziös. Wenn wir unseren Betrachtungsrahmen ändern, stellen die Dinge sich anders dar. So gesehen macht Leidenschaft nicht blind. Sie macht eher hellsichtig, empfänglich für das, was auch sein kann.

Natürlich kann die Idealisierung der Dauer nicht standhalten. Irgendwann stellt man fest, dass der begehrte Mensch anders, mehr ist, als gedacht. Diese Enttäuschung und Ernüchterung tun weh. In ihnen liegt der mit der Leidenschaft immer verbundene Schmerz. Sie bedeuten jedoch nicht, dass das, was war, unaufrichtig gewesen ist.

Das Idealbild ist zwar irreal, weil noch nicht da. Es ist aber auch real, weil eben doch schon ein wenig da. Es ist nicht von Dauer, aber es ist keine Lüge. Der Idealisierung aus Leidenschaft wohnt die Wahrheit des Moments inne. Die Hingabe an den Augenblick mag kopflos sein, aber nicht unehrlich.

Und so sieht meine Freundin in ihrem Freund einen Mann, der sich unendlich in sein Thema vertiefen kann, der pragmatisch und bescheiden wohnt, der ein wenig schüchtern ist aber auch den Mut hat, nichts darstellen zu müssen. Und das ist doch eigentlich sehr liebenswert. Es macht nichts, dass er nicht aussieht wie George Clooney. Hauptsache sie bemerkt nicht irgendwann, dass mein Freund aussieht wie Daniel Craig....


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