Für die Fahrt zu einem gemeinsamen Kundentermin holte mich neulich ein Kollege mit dem Auto ab. Als er um die Ecke bog, sprang ich auf den Beifahrersitz. Doch anstatt loszufahren, starrte er auf sein Handy. Ich wollte schon meckern, erschrak aber, als ich ihn ansah: Kreidebleich saß er da. „Meine Frau hat gerade unsere Ehe beendet. Nach 15 Jahren. Per SMS.“. Er hielt mir die Nachricht hin. „Wann kapierst Du es endlich? Meine Liebe ist auf Null. Es ist aus.“ Bislang hatte ich gedacht, solche Art der Beziehungsbeendigung gäbe es nur im Film. Ich war sprachlos. Jedes tröstende Wort erschien mir wie Hohn. Und ich wollte nichts schlimmer machen durch einen Kommentar zu der für mich so brachialen Art und Weise der Beziehungsbeendigung. Kurzerhand nahm ich ihn in den Arm. „Es tut mir so leid“, flüsterte ich. Und er sagte nur: „Ja, mir tut es auch leid.“. Dann fuhr er los. Ich hing in Gedanken noch bei der SMS. Da war die Liebe „auf Null“. Als gäbe es dafür einen Gradmesser. Ist das so? Und wenn ja: Was könnte das sein? Woran machen wir fest, wie sehr jemand liebt? Woran machen wir fest, wie sehr wir jemanden lieben?
Selbst wenn man sich, wie in diesem Fall, auf die Partnerliebe beschränkt, ist die Frage nach Liebesbeweisen ziemlich knifflig. Insbesondere wenn man Liebe vor allem als Gefühl betrachtet, geht es um etwas ganz und gar Subjektives, das sich kaum auf einer Skala vermessen lassen dürfte. Gleichwohl wird gerne versucht, das Ausmaß der Liebe an ihr irgendwie verwandten Gefühlen festzumachen. Zum Beispiel daran, wie groß die Sehnsucht nach dem Partner, der Partnerin ist. Daran, wie groß das Bedürfnis nach körperlicher Nähe zu dieser einen Person ist. Oder, wie häufig man an den anderen denkt und als wie schmerzhaft das Getrenntsein erlebt wird. In diesem Zusammenhang wird auch Eifersucht gern als Maßeinheit von Liebe betrachtet. Je eifersüchtiger, desto größer die Verlustangst, desto intensiver die Liebe lautet die Gleichung. Gewiss sind diese Indizien nicht von der Hand zu weisen. Aber führen sie wirklich weiter?
Hilfreicher finde ich, Liebe etwas weniger als Gefühl und etwas mehr als Fähigkeit zu betrachten, die in ganz bestimmten Verhaltensweisen zum Ausdruck kommt. So kann man, will man das Ausmaß an Liebe bestimmen, nach Hinweisen suchen, die sich im Außen zeigen und nicht nur im Inneren abspielen. Weniger Fokus auf den Affekt, mehr Aufmerksamkeit für die Aktivität gewissermaßen.
Dazu kann z.B. gehören zu fragen, wieviel Lob und Anerkennung wir anderen zollen und wie wir Wertschätzung und Bewunderung ausdrücken. Wie hilfsbereit und fürsorglich wir uns zeigen oder wie aufmerksam wir sind. Wieviel Zeit wir für jemanden erübrigen oder wie sehr wir Zärtlichkeit walten lassen.
Der amerikanische Paartherapeut Gary Chapman unterscheidet insgesamt fünf verschiedene „Sprachen der Liebe“ und macht sie für das Gefühl des Sich geliebt Fühlens verantwortlich. Nach seinem Modell beherrschen wir nicht zwingend alle Sprachen gleichermaßen, ganz im Gegenteil. Die Ausdrucksformen der Liebe bleiben individuell verschieden und müssen nicht immer zur bevorzugten Sprache des geliebten Menschen passen.
Was also, wenn meine Sprache der Liebe die Hilfsbereitschaft ist, aber eben nur diese? Liebe ich dann mehr oder liebe ich weniger als diejenige, die zwar allen Sprachen, diese aber jeweils mit nur sehr eingeschränktem „Wortschatz“ sprechen kann? Vielleicht ist es mit der Liebe sogar wie in der Kunst. Was für den einen eine hingeworfene Fingerübung, ist für den anderen schon ein Meisterwerk. Die entscheidende Frage ist doch dann: Was war gewollt? Sollte das Ganze ein Meisterwerk werden?
Wenn ich Liebe also messen will, funktioniert das aus meiner Sicht am ehesten anhand der Fähigkeit, lieben zu wollen, dem Vermögen, sich für die Liebe zu entscheiden. Die Entscheidung über das Wollen ist das Maß der Liebe. Will ich mich für den anderen Menschen entscheiden? Will ich offen sein für ein Wir, für einen Prozess, das Abenteuer eines gemeinsamen Lebens? Will ich darum ringen, wie das aussehen kann? Will ich Enttäuschungen, Frustrationen und Zumutungen aushalten? Oder will ich es nicht?
Es ist sicher keine Schande, nicht zu wollen. Aber je öfter es gelingt, je unterschiedlicher die Situationen, in denen über das tiefgreifende „Ja, ich will“ entschieden wird, desto ausgeprägter, glaube ich, ist die Fähigkeit zu lieben.