Jedes Jahr im Herbst machen meine Eltern ihren Garten winterfest. Dazu gehört, dass die Gartenmöbel auf dem Speicher verstaut und im Frühjahr wieder ans Licht geholt werden. Die Möbel werden aber nicht nur für den Winter verpackt, sondern auch sonst gut geschützt. Tisch und Sessel decken Sie mit einer Plane ab. Damit die nicht wegfliegt, gibt es eine ausgeklügelte Windsicherung. Und gegen das Kondenswasser hilft ein zusätzliches weiches Tuch. Das Aus- und Einpacken der so vor Witterung geschützten Möbel ist mittlerweile so aufwendig, dass meine Eltern, wenn sie mal kurz ein paar Sonnenstrahlen auf der Terrasse genießen wollen, Stühle aus dem Haus ins Freie tragen. Was hier verschroben wirkt ist, glaube ich, gar nicht so selten. Die Großmutter einer Freundin hat eine gute Stube, die sie nie benutzt, damit nichts drankommt. Eine Kollegin lässt das geerbte Geschirr mit Goldrand lieber im Schrank, als es in der Spülmaschine zu ruinieren (oder von Hand abzuwaschen). Und ich wette, auch Sie besitzen ein Kleid oder einen Anzug „für gut“.
Schaue ich auf die Situationen, komme ich ins Grübeln. Ist es nicht absurd, dass wir ausgerechnet das, was uns lieb und teuer ist, aus Angst vor Beschädigung in den hintersten Ecken unserer Schränke verstecken oder so fest einmotten, dass wir nur noch mit Mühe rankommen? Was haben wir von den schönen Dingen, wenn wir sie nie einsetzen? Kostbarkeiten, die wir nicht gebrauchen, werden zu Museumsstücken in unsrem Leben. Zu Staubfängern oder zu Ballast beim nächsten Umzug. Sie passen irgendwann nicht mehr oder wir vergessen ganz, dass wir sie haben. Wenn wir irgendwann bei einer Aufräumaktion auf sie stoßen, ist uns ihre Bedeutung vielleicht endgültig abhandengekommen und wir werfen sie weg. Wäre das nicht schade?
Ich plädiere deshalb dafür, auch und gerade Kostbares und Fragiles in unseren Alltag zu holen. Die Dinge sind für etwas gemacht. Wir sollten sie nutzen, selbst auf die Gefahr hin, dass der Lack abplatzt oder etwas einen Sprung bekommt.
Ich sage das nicht nur, weil ich ein Fan von schönen Kleidern oder altem Geschirr bin und es viel zu schade finde, all das nur sonntags in Betrieb zu haben. Ich sage das, weil ich glaube, dass es um viel mehr als solche Sonntags-Gegenstände geht. Mehr noch als diese haben wir alle Gefühle, die wir in der hintersten Ecke unseres Herzens verstecken, um sie vor Verletzungen zu schützen. Emotionen, die uns - wie das geerbte Geschirr - zeigen können, woher wir kommen und wer wir sind. Gefühle, die unser Leben bunt, reich und schön machen. Die aber eben auch zerbrechlich sind. Und wir nutzen Schutzstrategien, die uns von ihnen trennen.
Wir überhöhen Gefühle wie die Objekte in einer Vitrine, z.B. wenn wir romantischen Vorstellungen nachhängen, an Liebesidealen leiden und darüber keine wirkliche Verbundenheit und Nähe leben können. Wir packen Gefühle und Verletzlichkeit in dicke Schichten aus Zynismus – aber dabei geht uns ihre Süße verloren und wir werden bitter.
Natürlich ist es schmerzhaft, wenn wir verletzt werden. So wie es traurig und ärgerlich ist, wenn ein Erbstück zu Bruch geht. Wir sollten das auch nicht mutwillig zulassen. Aber wir sollten uns die Mühe machen, Strategien zu überlegen, wie wir etwas Empfindliches schützen können, ohne es wegzusperren.
Wir könnten versuchen, Gefühle im Kreis vertrauter Menschen auf den Tisch zu bringen. Wir könnten überlegen, in welchen Kontexten Gefühle sinnvoll waren und wie wir sie außerdem noch nutzen können. Statt Emotionen zu schlucken, können wir ihre Energie nutzen. Wir könnten probieren, Verletzungen zu heilen, auch wenn es Narben gibt. Wir könnten probieren, mit Kratzern und Sprüngen zu leben.
Das chinesische Porzellan müssen wir nicht dem Dreijährigen hinstellen, der gerade zu Besuch ist. Aber für die Teestunde mit der Freundin sollte es funktionieren. Die Kaffeekanne ohne Deckel taugt als Blumenvase. Den abgebrochenen Henkel einer Schüssel kann ich kleben.
Viel wichtiger als Perfektion und Makellosigkeit, als Unverletzlichkeit und vollkommener Schutz erscheint mir, Dingen wie Gefühlen eine Bedeutung zu geben und sie im Leben parat zu haben. Das macht uns reich.
Wir können einfach damit starten, sogar meine Eltern tun das. Ihre Gartenmöbel stellen sie im Winter jetzt an den Kamin. Dafür müssen sie nur zwei Sessel verrücken. Das ist viel leichter, als das Gartenzeug auf den Speicher zu schleppen. Und die Gartenmöbel werden endlich mal benutzt.