Warum die meisten Verletzungen Selbstverletzungen sind

Wundschmerzen

Vor einiger Zeit habe ich an einer sog. Meditations-Challenge teilgenommen. 21 Tage lang erhielt ich täglich eine angeleitete Meditation und dazu Fragen und Aufgaben zur Selbstreflexion. Um das Ergebnis vorweg zu nehmen: Die Erfahrung war großartig und ich würde das jederzeit wieder machen. Und das, obwohl das Ganze fordernd war. Übrigens war der Zeitfaktor, anders als ich am Anfang dachte, nicht der herausfordernde Teil. Der kam an Tag 15 in Gestalt einer Aufgabe: Ich sollte einen Dankesbrief an eine Person verfassen, die mich einmal sehr verletzt hat. Das war eine harte Nuss. Ganz oft ging es um das Gefühl der Zurückweisung, darum, dass ich etwas sehnlichst Gewünschtes nicht bekommen hatte und dass Bedürfnisse von mir ungestillt geblieben waren. Mir dämmerte, dass ein Großteil der erlittenen Schmerzen eigentlich auf mein Konto gingen. Und so kam ich nicht umhin zu fragen: Fügen wir uns die meisten unserer Verletzungen womöglich selber zu?

Typischerweise erleben wir Verletzungen im Kontakt mit anderen Menschen, etwa, wenn wir Zurückweisung oder Kritik erfahren. Das sieht nach einem Beziehungsgeschehen aus und das ist es auch, aber anders, als es auf den ersten Blick scheint. Neben der Tatsache, dass Kränkungssituationen gemeinsam gestaltet werden und in der Konfliktdynamik die Rollen von Täter und Opfer schnell wechseln können, scheint mir die erlebte Verletzung vor allem eine Frage unserer Beziehung zu uns selbst.

Die Psychologin Bärbel Wardetzki beschreibt Kränkungen als Schwächung der positiven Selbsteinschätzung. Je mehr unsere Selbstachtung angekratzt ist, desto heftiger fällt die Kränkungsreaktion aus. Umgangssprachlich reden wir davon, dass unser wunder Punkt erwischt wurde. Und tatsächlich sind diese wunden Punkte Stellen, an denen wir schon oft getroffen wurden und Verletzungen erlitten haben. Wie bei einer echten Wunde schmerzt es, wenn sie angerührt werden. Die Psychologie spricht von offenen Gestalten – verletzende Erfahrungen aus der Vergangenheit, die nicht verarbeitet wurden und gut verdrängt im Unterbewussten schlummern. Erleben wir heute eine ähnliche Verletzung, spüren wir nicht nur den Schmerz der aktuellen Kränkung, sondern auch den der alten.

Dummerweise ist es nicht so leicht, einen Wundschmerz auszublenden. So verwenden wir oft all unsere Energie darauf, alte Wunden nicht mehr aufzureißen. Eigentlich fechten wir damit aber Kämpfe aus, die längst verloren sind. Wir stecken Kraft in Muster, die uns schon früher nichts gebracht haben, reproduzieren auf diese Weise das Kränkungsgeschehen und verletzen uns immer wieder selbst.

Neben der Heilung der alten Wunden, was am besten eine Therapie leisten kann, sind Musterbrüche hilfreich. Nicht die weitere Beschäftigung mit dem Drama und das Lamentieren über die Ungerechtigkeit der Welt, sondern die Frage: Wie habe ich Probleme an anderen Stellen in meinem Leben gelöst? Oder die selbstbewusste Zurückweisung von Kritik und das Einstehen für die eigenen Fähigkeiten. Die durch Verunsicherung geschrumpfte Selbstachtung gilt es zu stärken – und damit liegt im Versuch der Heilung oft die Quelle für die nächste Selbstverletzung.

Denn nicht nur durch die Reproduktion alter Kränkungsgeschehen fügen wir uns selber Schmerzen zu, sondern auch dann, wenn wir Unzufriedenheit angesichts eines am Außen orientierten Selbstbildes produzieren. Grundsätzlich ist natürlich nichts dagegen einzuwenden, nach Erfolg, Anerkennung, Schönheit oder Macht zu streben, sich selbst etwas Gutes zu tun und sich an schönen Dingen zu erfreuen. Ein Selbstbild aber, das allein von äußeren Dingen abhängig ist, macht uns nur noch angreifbarer und verletzlicher.

Es bringt nichts, das Pflaster vermeintlicher Selbstliebe auf alte Wunden zu kleben. Schäumende Badewannen, Duftkerzen und Detox-Kuren aus Ausdruck von Selbstfürsorge darf man daher getrost vergessen (es sei denn, man hat wirklich Spaß daran). Wahre Selbstachtung kommt von innen. Was also tun?

Ich denke, man könnte versuchen, zunächst freundlich auf das zu schauen, was ist. Es als Ausdruck all der Entscheidungen, die man bisher im Leben getroffen hat, zu verstehen. Man könnte sich in Nachsicht damit zu üben, dass man ist, wie man ist. Dass man nicht toller ist, als man ist. Man könnte anfangen, dankbar zu sein, für alles, was ist. Einschließlich all der Verletzungen, die man sich selber zugefügt hat. Und die einem helfen, sich selbst besser auf die Spur zu kommen.


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