Wie uns die Heilung von Verletzungen veredeln kann

Vergoldete Brüche

Auf der Suche nach einem passenden Geburtstagsgeschenk für eine Freundin – ich hatte an eine Porzellanschale gedacht - stolperte ich über ein Kintsugi-Reparaturset. Kintsugi, falls Ihnen das wie mir erstmal nichts sagt, ist eine japanische Reparaturtechnik, mit der zerbrochene Keramik wieder zusammengesetzt wird. Das Besondere daran: Kintsugi will die entstandenen Risse nicht verbergen, sondern betont sie durch die Verwendung von Goldpigmenten im Lack. Die so reparierten Objekte sind nicht nur voll funktionsfähig, sie erstrahlen auch in gänzlich neuer Schönheit.

Der Gedanke, Risse und Sprünge buchstäblich zu vergolden, gefiel mir. Und während ich weiter durch die Liste unzähliger Schalen scrollte, gingen meine Gedanken auf Wanderschaft. Könnten wir so nicht auch mit Verletzungen im Leben umgehen? Sie heilen und dabei vergolden? Gewiss ist Kintsugi eine Kunst, die gelernt sein will. Aber immerhin gibt es Reparatursets für Anfänger. Wäre es nicht fabelhaft, wenn es solche Reparatursets auch für die Verletzungen unserer Seele gäbe? Vielleicht kann man sich beim Kintsugi etwas abschauen?

Da ist zunächst einmal das zugrunde liegende ästhetische Konzept des Wabi Sabi. Darin zählt weniger die offenkundige, weil makellose Schönheit, als die Besonderheit eines Objekts, die sich in der Hülle des Unscheinbaren verbirgt. Wabi Sabi und mit ihm die Technik des Kintsugi akzeptieren das Unvollkommene und wertschätzen Fehlerhaftigkeit. Und so könnte die Haltung, dass Verletzungen zum Leben dazu gehören, schon eine erste Hilfe sein. Kintsugi bleibt dabei aber nicht stehen. Es geht ja gerade darum, Zerbrochenes zu reparieren. So, wie den Japanern die Schalen für die Teezeremonie es wert sind, wieder geklebt zu werden, sollte uns der zerbrochene Teil in uns die Mühe wert sein, wieder geheilt zu werden. Das Signal ist: Auch wenn etwas angeschlagen oder zerbrochen ist, es kann heil gemacht werden und weiterleben.

Im Kintsugi werden Scherben wieder zusammengesetzt. Trotzdem geht es nicht um das Wiederherstellen eines vorherigen Zustands. Es geht um die Kreation von etwas Neuen. Bruchstellen werden als Landschaften bezeichnet und Risse sind so besonders, dass man sie mit Goldpigmenten betont. Das Original ist der Gegenstand als solcher, inklusive aller Gebrauchsspuren. Er verliert durch den Kitt nicht an Wert, ganz im Gegenteil. Für den Umgang und die Pflege von verletzten Anteilen in uns finde ich das entlastend. Wie müssen Kränkungen nicht ungeschehen zu machen oder in einen früheren Zustand zurück zu kehren. Indem wir uns Wunden zuwenden, sie versorgen und veredeln, werden sie ins Leben integriert und machen uns unverwechselbar.

Für das Zusammenfügen der Scherben gibt es im Kintsugi einen speziellen Lack. Das Klebeverfahren ist aufwendig und erfolgt in vielen Schritten. Im Leben ist das der eigentliche, oft mühsame und schmerzliche Heilungsprozess. Das Mittel der Heilung scheint mir die Verantwortung zu sein, die wir für die Risse im Leben übernehmen. Dabei geht es nicht um die Schuldfrage, sondern darum, wie wir auf Kränkungstrigger reagieren. Ein Weg der „Wundreinigung“ ist daher, sich von Ersatzgefühlen wie Trotz oder Empörung zu entgiften und echten Gefühlen Raum zu geben. Es gilt, genau zu beobachten, was man empfindet und dies zu benennen. In einem weiteren Schritt ist es hilfreich, die Situation und die damit verbundenen Gefühle aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten – mindestens aus der der anderen involvierten Person – und sie dann einem vertrauten Menschen mitzuteilen. Das hilft, Hintergründe von Verletzungen besser zu verstehen und barmherziger mit ihnen umzugehen. Der Beistand eines wohlmeinenden Menschen ist nicht nur Stütze beim Tragen der Verantwortung, sondern auch Hilfe beim Loslassen des Schmerzes. Denn nicht selten suchen wir das Drama an der einen Stelle, um vom Schmerz an der anderen abzulenken. Schließlich geht es darum, den Lack wieder und wieder aufzutragen, sich wieder und wieder den eigenen unangenehmen Gefühlen zuzuwenden und sie anzunehmen. Das ist die eigentliche Heilung, meine ich: sich nicht nur einzugestehen, dass man Angst hat oder Scham empfindet, sondern es sich auch zuzugestehen.

So kann mit jeder geheilten Verletzung die Erfahrung von Wert und Würde und damit die Selbstachtung steigen. Je mehr Selbstachtung wir haben, desto weniger treffen uns die Trigger und Angriffe von außen. Und je mehr unsere Selbstachtung auf echter Entwicklung beruht, desto mehr werden unsere alten Verletzungen uns schmücken. Und wir können ganz neu erstrahlen.


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