Von Sehnsucht und Sucht

Zerstörerische Ideale

Neulich habe ich einen Abend mit zwei wunderbaren Freundinnen verbracht. Wir hatten uns lange nicht gesehen und dementsprechend viel zu erzählen. Von unseren Jobs, unseren Kindern, unseren Eltern und auch von der Liebe. Ganz besonders davon. Wir erzählten von tiefen Freundschaften und kurzen Flirts, von unbeschreiblichen Glücksmomenten und von Fällen für’s Panoptikum. Wir analysierten unsere kruden Beziehungsmuster und jede Sekunde des letzten Streits mit dem Partner. Wie zur Bestätigung unserer Verbundenheit stellten wir fest, dass wir alle ähnliche Bewältigungsmuster haben, wenn wir Liebenskrisen durchleben. Wir shoppen, verschlingen Schokolade oder stürzen uns bis zur Besinnungslosigkeit in die Arbeit. Verstehen Sie mich nicht falsch: Keine von uns ist kauf-, ess- oder arbeitssüchtig. Süchtig sind ohnehin immer nur die anderen……. Aber da saßen wir nun: Drei Frauen, mitten im Leben. Einigermaßen gescheit und durchaus lebenserfahren. Und trotz stabiler Partnerschaften auf der unendlichen, schwärmerischen Suche nach Liebe. Und wir kamen nicht umhin zu fragen, wieviel Sucht in einer Sehnsucht steckt und wann aus Sehnsucht eine Sucht wird.

Medizinisch und psychologisch betrachtet versteht man unter einer Sucht die Abhängigkeit von einem bestimmten Erlebnis- oder Bewusstseinszustand. Es geht im weitesten Sinne um ein angestrebtes Gefühl, nicht um das Suchtmittel selbst. Seine Einnahme bzw. das Aufzeigen eines bestimmten Suchtverhaltens (z.B. fernsehen, Glücksspiel spielen, essen) sollen lediglich den gewünschten Zustand herbeiführen. Das Verlangen nach dem Erleben dieses „Rauschs“ ist dabei so drängend, dass das Suchtmittel immer wieder eingenommen, das Suchtverhalten immer wieder an den Tag gelegt wird. Der mit dem Suchtmittel angestrebte Gemütszustand wird dabei als Lösung für ein Problem erlebt. Gängige materielle wie ideelle Suchtmittel helfen schnell. Fast ebenso schnell entfalten sie aber auch ihre zerstörerische Wirkung. Nicht nur, weil Drogen als solche krankmachen, die wirtschaftliche Existenz bedrohen oder in die Isolation führen. Sondern vor allem, weil der ausgelöste Rausch nur eine Ersatzlösung ist und keine wirkliche Heilung bringt. Dem eigentlichen Problem wird nicht auf den Grund gegangen, die eigentliche Lebensfrage wird nicht beantwortet. Die Sucht wird zum Siechtum, weil nicht nur das Mittel schädlich ist, sondern weil der damit herbeigeführte, ersehnte Zustand untauglich ist, das dahinterliegende Problem zu lösen.

Ich finde, mit der Sehnsucht verhält es sich sehr ähnlich.

Da gibt es den dringenden Wunsch nach Sehnsuchtsobjekten – Traumland, Traumjob, Traumpartner – die, bekommt man sie zu fassen, einen rauschhaften Zustand auslösen können.

Und ebenso wie der „normale“ Süchtige kann der Sehnsüchtige erleben, dass nicht nur das Sehnsuchtsobjekt untauglich ist, sondern dass auch das Sehnsuchtsziel, d.h. der mit dem Sehnsuchtsobjekt verknüpfte Glückszustand, Bedürfnisse nur bedingt stillen kann. Sehnsucht flammt oft trotz Bedürfnisbefriedigung wieder auf. Das Auswandern in exotische Gefilde macht das Leben nicht leichter. Der neue Job wird nach einem halben Jahr so belastend wie der alte. Auch mit dem Traummann brennt der Hunger nach Liebe weiter.

Mit solcherart Ersatzbefriedigung lässt sich die Seele kaum zur Ruhe zu bringen. Und darin liegt zugleich ihre zerstörerische Seite. Denn: Was ist „echte“ Bedürfniserfüllung, was ist Ersatzlösung? Hier ist es verführerisch, sich nach Idealen zu strecken. Doch wo sich Sehnsucht auf Ideale richtet, wo das Streben nach Perfektion Überansprüche begründet, ist Gefahr im Verzug. Sehnsucht wird destruktiv wie eine Sucht, wenn sie sich auf Ideale richtet, die alles oder nichts fordern.

Wenn man sich selbst vor dem Scheitern nur schützen kann, indem man nichts statt alles tut und in der Depression versinkt (also statt die Reise ins Traumland zu planen nicht einmal mehr das Haus verlässt).

Wenn aus dem Eindruck, das Entscheidende verpasst zu haben, eine lähmende Leere entsteht und neue Sehnsüchte als Triebfeder verloren gehen.

Oder wenn umgekehrt aus der treibenden Kraft der Sehnsucht ein Vollkommenheitsanspruch wird, mit dem man andere (z.B. den Traummann) überfordert. Wenn nichts gut genug ist und das Gefühl von Erfüllung nie erlebt wird.

Es lohnt sich also, die eigene Sehnsucht zu erforschen. Fragen Sie dabei nicht nur, was Sie sich wünschen. Ziehen Sie auch mal Bilanz: Woran sind Sie reich? Woran fehlt es Ihnen wirklich? Welche Lücke gilt es zu füllen?

Das ist gewiss nicht leicht. Ist nicht in fünf Minuten getan und sehr wahrscheinlich auch mit Kummer verbunden. Aber es lohnt sich. Und macht sich am besten nicht allein, sondern mit wunderbaren Freundinnen.


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