Von Sehnsucht als einem romantischen Konzept

Mein romantischer Friseur

Neulich war ich mal wieder bei meinem Friseur. Er ist Franzose, heißt Alain und ist schwul. Klischeehafter geht es nicht. Wir gerieten ins Plaudern, wie immer auch über die Arbeit. Und irgendwie gerieten wir auch hierhin, zu meinem Schreiben über Sehnsucht. Das war dann nicht mehr wie immer. Alain, der seit über 25 Jahren in Deutschland lebt und fabelhaft Deutsch spricht, verstand das Wort Sehnsucht nicht! Ich versuchte es erst mit meinen Französischkenntnissen und dann mit verschiedenen Übersetzungsapps. Alain begann zu ahnen, was gemeint war. Aber erstaunlicherweise fanden wir im Französischen kein treffendes Wort für den Gemütszustand, den „Sehnsucht“ im Deutschen umfasst. Keine der angebotenen Übersetzungen spiegelte auch nur annähernd das ambivalente Schillern zwischen Lust und Leid, Glückseligkeit und Schmerz, Süße und Bitterkeit, Hoffen und Bangen wider. Und ich kam nicht umhin zu fragen: Ist Sehnsucht etwa typisch deutsch?

Um die Antwort sofort zu geben: Nein, ist sie nicht. Auch wenn Übersetzungsschwierigkeiten (die zugegeben eine persönliche Ursache haben können) und ein schneller Blick in die Literatur- und Kunstgeschichte diesen Gedanken nahe legen könnten. Die Romantik nämlich – weil man hier schnell an Namen wie Caspar David Friedrich, Clemens von Brentano oder E.T.A. Hoffmann denkt, erachten manche sie als typisch deutsch – macht Empfindung, Leidenschaft und Seele zum Gegenstand ihrer Kunst. Sehnsucht spielt hierbei eine prominente Rolle. Wagners „Tristan und Isolde“ kennt das „Sehnsuchtsmotiv“, Eichendorff hat ein ganzes Gedicht so betitelt und Novalis erfand die „blaue Blume“, die seither das Symbol für romantische Sehnsucht schlechthin ist. Die Romantiker baden in der Sehnsucht nach entrückten Dingen. In der Tradition der in der Tat deutschen Bildungs- und Erziehungsromane gilt die Sehnsucht als Antrieb schlechthin bei der Suche nach gesellschaftlicher und persönlicher Entwicklung und Vervollkommnung.

Was die Epoche der Romantik und ihre allerdings keineswegs nur deutschen Vertreter (denken Sie z.B. an Lord Byron, Madame de Staël, Chopin, oder Liszt) prägt, ist ihre nach einer Zeit des Rationalismus erhöhte Sensibilität für die Spaltung der Welt – in eine Welt der Vernunft und eine des Gefühls – und die damit verbundene Unvollkommenheit. Sie streben nach Aufhebung dieser Spaltung und versuchen, Gegensätze zusammen zu bringen. Bei ihrer Suche nach Vollkommenheit verherrlichen sie teils nostalgisch alte Zeiten; mutig wagen sie aber auch die Auflösung althergebrachter Formen. Sie ersehnen Heilung für sich und die Welt und verleihen dieser Sehnsucht in großer Stilvielfalt Ausdruck in ihren Werken. Seufzend und schmachtend wünschen sie sich die Welt anders und sind dabei gleichermaßen verliebt in ihre ganz persönliche Vorstellung von der geheilten Welt wie in das brennende Verlangen danach als solches.

Sehnsucht ist kein deutsches Phänomen. Sie ist aber, wenn man so will, ein zutiefst romantisches.

Romantisch nicht im Sinne von Rosenblättern und Kerzenschein, von Sonnenuntergang und Palmenstrand, sondern im Sinne von Sehnsuchtsfluchten in kleine und große Utopien. Sehnsucht ist romantisch im Sinne eines Fühlens, dass etwas noch im Dunkeln liegt, was aber Teil unseres Lebens sein sollte. Romantisch im Sinne der tiefen Gewissheit, dass es etwas zu vereinen und ganz zu machen gibt. Romantisch im Sinne eines Gespürs dafür, dass es sich lohnt, leidenschaftlich zu hoffen, zu suchen, zu kämpfen, zu weinen, zu lieben ohne zu wissen, worauf , wonach, wofür ganz genau. Sehnsucht ist romantisch, weil sie dem Leben diese Magie schenkt.

In diesem Sinne wünsche ich mir wahnsinnig viel Romantik für mein Leben. An dieser Stelle gab es übrigens keinerlei Verständigungsschwierigkeiten zwischen Alain und mir. Romantik ist eben nicht nur etymologisch ziemlich französisch. Und Alain ist noch ein bisschen klischeehafter als ohnehin schon.


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