Von fünf Grundsehnsüchten

Aller riskanten Dinge sind fünf

Kürzlich geriet ich am Rande eines Coachings gemeinsam mit meinem Kunden ins Träumen vom nächsten Urlaub. Während ich noch überlegte, wann mal wieder eine freie Woche passen würde, konnte mein Coachee sehr konkrete Reisepläne aufweisen: Ferien auf Sizilien. Er begann zu schwärmen und schloss seine ansteckend begeisterte Beschreibung dieser Insel mit schmachtenden Worten: „Ach, Italien ist einfach mein Sehnsuchtsland.“ Ich stutzte. Welches war eigentlich mein Sehnsuchtsland? Worauf ist Sehnsucht generell gerichtet? Immer auf etwas so konkretes wie ein Land? Sind Sehnsüchte individuell verschieden oder bei allen Menschen ähnlich? Lassen sie sich eventuell sogar „kategorisieren“? Und: Was verraten sie über den Menschen, der sehnt?

Forscher am Berliner Max-Planck-Institut bezeichnen Sehnsuchtsländer wie Italien als Sehnsuchtsobjekte. Sie verstehen diese als Symbole, mit denen oft sehr bestimmte Ideen und Vorstellungen verbunden sind. Die Sehnsuchtsziele dahinter hingegen müssen keineswegs deutlich umrissen sein. In der Regel drehen sie sich um weiter reichende Wünsche, Entwicklungsaufgaben und Grundmotive des Lebens und bleiben damit eher vage und unkonkret.

Wenn ich an die vielen Gespräche am Rande von Seminaren oder in Coachings denke, kann ich dies bestätigen. Fragt man nach Wünschen und Bedürfnissen hinter den meist gut fassbaren Sehnsuchtsobjekten, lassen sich oft nur verschwommene Konturen erkennen. Doch bei aller Unschärfe zeichnen sich ein paar immer wiederkehrende Themenfelder ab: Fünf Grundsehnsüchte scheinen es zu sein, um die sich unser Leben rankt und in denen wir auf schmalem Grat mit anderen Menschen verbunden sind. Denn so sehr Sehnsüchte uns Kraft geben und uns beflügeln in der Hingabe für andere, so gefährlich können sie auch werden, wenn wir beim Versuch ihrer Erfüllung über das Ziel hinaus schießen:

Da ist als Erstes die Sehnsucht nach Sicherheit, körperlicher wie wirtschaftlicher. Der starke Wunsch und Antrieb, ein unbeschwertes Leben frei von existenziellen Sorgen führen zu können. So stark, dass viele Menschen aus Gründen der Sicherheit bereit sind – zumindest für eine gewisse Zeit – Unbilden auszuhalten und Risiken einzugehen. Nervenaufreibende Jobs, schmerzhafte Therapien oder gar die gefährliche Flucht aus Krisengebieten.

Da ist zum Zweiten die Sehnsucht danach, dazu zu gehören. Der starke Drang nach sozialen Beziehungen und Anschluss, der Wunsch, Teil einer Gruppe, eines größeren Gefüges zu sein. Sich nicht isoliert zu wissen, sondern auf die Stärke einer Gemeinschaft vertrauen zu können. So stark, dass Menschen bereit sind, individuelle Freiheiten zugunsten einer Gruppe aufzugeben, persönliche Interessen hinter die einer Gruppe zurück zu stellen.

Die Sehnsucht nach Liebe als eine besondere Form der Sehnsucht nach dem Dazugehören. Der so kraftvolle Drang, nicht allein zu sein, sondern fest verwurzelt in und verbunden mit einem anderen Wesen. Gewollt und angenommen zu sein vor aller Leistung. So mächtig, dass Menschen grenzenlos werden und bereit sind, sich selbst verletzlich zu machen bis zur Selbstaufgabe.

Es gibt viertens die Sehnsucht danach, wahrgenommen zu werden. Das mächtige Bedürfnis nach Anerkennung, Achtung und Wertschätzung. Der ganz buchstäbliche Wunsch An-sehen zu genießen und nicht übersehen zu werden. So heftig manchmal, dass Menschen enorme Leistungen erbringen im Beruf, in der Familie, im Ehrenamt – bis dahin, dass sie sich selbst und andere überfordern.

Und schließlich ist da als Fünftes die Sehnsucht nach Sinn. Das Streben nach dem vollen Sein und dem Überschreiten des Fassbaren. So gewaltig, dass Menschen bereit sind, blind zu vertrauen, zu glauben und sich auszuliefern.

Diese fünf Grundsehnsüchte verweisen auf unsere tiefsten Bedürfnisse – insbesondere auf solche, die wir für unerfüllt – und vielleicht sogar für unerfüllbar – halten. Für sie sind wir bereit, unmögliche Dinge zu tun. Durch die Tür unserer Sehnsucht erhaschen wir einen Blick auf Leerstellen in unserem Innersten. Sehnsüchte verraten etwas über unsere Unvollständigkeit. Und flüstern von Risiken die wir bereit sind einzugehen, um die Leere zu füllen. Sie verraten, auf welche Weise wir aufgrund unserer Bedürftigkeit anderen und uns selbst gut und gefährlich zugleich sind.

Es lohnt also hinzuhören und ausgehend vom Sehnsuchtsobjekt nach dem Sehnsuchtsziel und der Grundsehnsucht zu fahnden. Und auch wenn Leere vielleicht nicht gefüllt werden kann, lässt sich unter Umständen Schmerz abwenden.

Ein Sehnsuchtsland habe ich, auch nach langem Nachdenken, übrigens nicht. Nur eine Sehnsuchtsstadt. Es ist Paris. Was immer das zu bedeuten hat…


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