„Wenn der Sommer nicht mehr weit ist“ ist Titel und erste Zeile eines Liedes von Konstantin Wecker. Er singt darin von der Lust am Leben und der Möglichkeit, aus dem Vollen zu Schöpfen. Seine Zeilen laufen schier über vor Wonne angesichts des Reichtums und der Fülle, die der Sommer des Lebens bereithält. Und wie in kaum einem anderen Song wird für mich hörbar, wie sich an der Schwelle zur erfüllten Sehnsucht schon die nächste Sehnsuchtswelle Bahn bricht. Die Sehnsucht danach, dass dieses Schwelgen auch wirklich beginnen und dann nie aufhören möge. Dieses musikalische Schaukeln im Strom des Lebens bewegt mich immer sehr. Und ich komme nicht umhin zu fragen: Kann eine Sehnsucht jemals wirklich erfüllt sein?
Philosophen und Psychologen sind sich vergleichsweise einig und sagen: Nein. Wesenselement der Sehnsucht ist ja gerade, dass sie auf Unerfüllbares, nahezu Utopisches gerichtet ist. Dennoch erleben wir es hin und wieder, dass sich das Gefühl erfüllter Sehnsucht einstellt. Oder – wie im Wecker-Song – der Eindruck, dass die Erfüllung zum Greifen nahe sei. Wie kann das sein?
Ich glaube, dass wir Menschen das Gefühl der Sehnsucht sehr stark mit individuellen Sehnsuchtsobjekten verknüpfen. Das schöne Haus, das Kind, die perfekte Partnerschaft, ein großartiges Zeugnis, der Traumjob… alles „Dinge“, die noch vor unseren eigentlichen Sehnsuchtszielen stehen. Wir können sie erreichen, genießen und das brennende Gefühl für eine Weile zur Ruhe kommen lassen. Wie bei einer Wanderung durch die Wüste ist eine Oase erreicht. Oft genug aber nicht einmal die. Dann ist es eher wie eine Fata Morgana, auf die wir uns dürstend stürzen. Dort angekommen stellen wir fest: Es ist nur eine Spiegelung dessen, was wir wirklich brauchen. Und die Wüstenwanderung geht weiter.
So gesehen ist nach der Sehnsucht immer auch vor der Sehnsucht. Sie kehrt zurück wie ein altbekannter Gast. Klopft immer wieder an. Mal lauter, mal leiser.
Auch aus motivationstheoretischer Sicht lässt sich das Kommen und Gehen von Sehnsucht deuten: Versteht man Sehnsüchte als Grundmotivationen im Leben, kann man differenzieren. Einige Sehnsüchte wären demnach grundsätzlich erfüllbar. Das Grundbedürfnis nach existenzieller Sicherheit etwa, zu dem es z.B. gehört, nicht hungern zu müssen oder zur Ruhe kommen zu können. Ist ausreichend Nahrung vorhanden, sind wir irgendwann satt. Haben wir ausreichend geschlafen, sind wir erholt und wach. Aber eben nur, bis unser Bedürfnisspeicher wieder leer ist. Andere Antriebe wie z.B. die Sehnsucht nach Anerkennung oder Sinn, sind Wachstumsbedürf-nisse und können nie vollständig befriedigt werden, sondern allenfalls in Teilen.
Wo solcherlei Bedürfnisse ganz oder teilweise gestillt sind, ist ein zwar Entwicklungsschritt gemacht, ein Stück ist Leere gefüllt. Die Grundmotive wirken vorerst nicht mehr treibend und handlungsleitend. Die Sehnsucht ist erfüllt und kann – vorübergehend- erlöschen. Doch offensichtlich können unsere Speicher nicht so viel aufnehmen, dass es ein für alle Mal genügt. Oder sie sind so groß, dass ein Leben nicht reicht, um sie zu füllen. In unserem Bedürfnis nach „Erfüllung“ durch Sinn und Transzendenz – der letzten Stufe unserer Bedürfnisse – stoßen wir an die Grenzen unseres Daseins im Hier und Jetzt. Also kommt die Sehnsucht wieder.
Sehnsucht ist der Ausdruck unseres Verlangens nach Leben in Ganzheit. Als solcher muss sie zurückkehren, kann nie vollständig gesättigt sein. In unserem Erleben von Unvollständigkeit ahnen wir, was fehlt. Wissen können wir es nicht.
Und irgendwie finde ich das gut so. Denn, stellen Sie sich vor, Sie wüssten genau was Sie brauchen. Sie könnten alle Bedürfnisse zu hundert Prozent befriedigen. Sie wären fertig. Heil. Perfekt. Sie hätten keine Sehnsucht mehr. Sie wären sich selbst genug. Wofür würden Sie leben?
Ich bin froh, dass die Erfüllung meiner Sehnsucht flüchtig ist. Sie hält mich am Leben. Und ich freue mich darauf, mit Konstantin Wecker den nächsten Sommer zu ersehen, in seiner Fülle zu baden und zu dabei wissen, dass diese Sehnsucht wiederkehrt.