Vom Sehnsuchtsfunken im Menschen

Ist er schon drin?

Der Sohn einer lieben Freundin geht in diesem Jahr zur Firmung. Neben den wöchentlichen Gruppenstunden ist der Besuch des Sonntagsgottesdienstes verpflichtender Bestandteil der Firmvorbereitung. So weit, so gewöhnlich. Etwas ungewöhnlicher schon die Regel, dass die Jugendlichen bei Nichtbesuch ersatzweise „Sozialstunden“ ableisten müssen. Die Erklärung für diese Art der Inpflichtnahme aber war wirklich überraschend: Mit dem regelmäßigen Gottesdienstbesuch solle die Sehnsucht der Jugendlichen nach Gott und nach der Gemeinschaft im Glauben entzündet werden. Während meine Freundin vor allem den pädagogischen Ansatz im Hinblick auf das erklärte Ziel in Frage stellte, kam ich nicht umhin zu fragen: Kann man Sehnsucht überhaupt entzünden?

Psychologen vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung sagen: Man kann.

Aus den Ergebnissen ihrer Studien im Rahmen der Sehnsuchts-Forschung hat die Forscher-Gruppe um den 2006 verstorbenen Paul Baltes ein Modell entwickelt, demzufolge Sehnsucht sich aus sechs Komponenten speist.

Neben der symbolischen Bedeutung von Sehnsuchtsobjekten und der emotionalen Ambivalenz handelt es sich dabei um die vergleichende Rückschau auf das eigene Leben, das Zusammenfließen von Erinnerungen mit gegenwärtigen Wünschen und Erwartungen für die Zukunft (sog. „Dreizeitigkeitsfokus“), die Vorstellung davon, was perfekt, aber unerreichbar ist („persönliche Utopie“) sowie das Gefühl der Unvollkommenheit des eigenen Lebens. Gerade die letzten Aspekte machen deutlich, dass Sehnsucht – zumindest aus psychologischer Perspektive – nicht einfach da ist, sondern erst im Laufe des Lebens entstehen kann. Als Voraussetzung für das Empfinden von Sehnsucht nennen die Forscher bestimmte geistige Fähigkeiten wie z.B. das Sinnieren über die eigene Biografie, die Fähigkeit zum kontrafaktischen Denken, also der Was wäre wenn-Frage, und ein bestimmtes Maß an Erfahrungen. Weiteren Studien zufolge können denn auch Kleinkinder noch keine Sehnsucht erleben, die Fähigkeit dazu entwickelt sich erst im späten Kindes- und Jugendalter.

Die Forscher weisen außerdem darauf hin, dass es Menschen gibt, die den sehnsüchtigen Zustand sogar suchen, in dem sie entsprechende Musik hören oder Bücher und Gedichte lesen. Mit anderen Worten: Sie stellen Sehnsuchtsgefühle her.

Ich finde das alles sehr plausibel. Auch kann ich die Erfahrung bestätigen, dass sich das bittersüße Gefühl von Ziehen und Drängen mit Musik und Literatur anfeuern, ja sogar in eine bestimmte Richtung lenken lässt.

Dennoch bin ich sicher: Sehnsucht als solche, als reines Gefühl, muss nicht erzeugt werden, denn sie ist immer schon da. Gerade wenn das Gefühl der Unvollkommenheit wesentliches Merkmal von Sehnsucht ist – wohnt sie uns dann als Teil unseres Menschseins nicht inne? Das Drängen und Streben nach etwas, vielleicht auch das Leiden an der Unvollkommenheit halte ich für den Ausdruck einer anthropologischen Grunddisposition. Denn was macht uns Menschen mehr aus, als das Wissen um unsere Begrenztheit? Als unser Streben nach Vervollkommnung, Ganzheit oder Heilung? Genau dieses Gefühl der Unvollständigkeit ist meines Erachtens der Sehnsuchtsfunke, der in uns allen schlummert. Der Funke kann vom Glimmen zum Lodern gebracht werden. Die einen spüren ihn mehr, die anderen weniger. Die einen kennen ihre Sehnsuchtsziele genau, die anderen spüren vor allem das brennende Drängen ohne genau sagen zu können, wonach ihr Herz weint. Ich finde, es spricht auch nichts dagegen, der Sehnsucht mit entsprechenden Mitteln ein wenig anzuheizen. Oder jungen Menschen Sehnsuchtsperspektiven zu eröffnen. Doch ganz abgesehen davon also, dass ich Stempelkarten und Sozialstunden nicht für geeignete Mittel halte, um die Sehnsucht nach Gott zu befeuern – was gewiss Geschmackssache ist – steht für mich fest. Entzündet werden muss Sehnsucht nicht. Sie ist es längst.


Alles zum Thema "Kolumnen, Sehnsucht" lesen.

Vorheriger BeitragNächster Beitrag