Neulich war meine Tochter zu einer Einweihungsparty eingeladen. Das ist überaus bemerkenswert. Nicht etwa, weil Wolfgang Petry gespielt wurde, von dem die Titelzeile dieses Textes stammt oder weil es in Berlin an ein Wunder grenzt, wenn jemand eine Wohnung findet. Die Party war bemerkenswert, weil eine Freundin mit einem jungen Mann zusammenzog, den sie vor nicht mal einem halben Jahr in flagranti mit einem Tinder-Date erwischt hatte. Damals durfte ich an dem Drama Anteil haben, weil meine Tochter über fast zwei Wochen via Standleitung Trost spendete. Und nun gab es die innige Verbindung inklusive gemeinsamer Wohnung. Ich war skeptisch, was die junge Liebe betraf. Ebenso war es der Kreis der Freundinnen, der vor der Party in unserer Küche hockte. „Er hat sie so hintergangen! Er hat ihr so weh getan! Wie kann sie ihm das verzeihen? Hat sie denn gar keine Selbstachtung?“ Die Empörung konnte ich gut verstehen, hielt aber meinen Mund. Denn während das Grüppchen überlegte, wie man „dem Typen“ gegenübertreten wollte, fragte ich mich, wie man wohl am besten der verliebten Freundin begegnen könnte. Sollte man den Kopf schütteln über so viel Naivität? Oder sie eher bewundern, weil sie in der Lage war, zu vergeben und einen Neustart zu wagen?
Tatsächlich wird hier ein Konflikt offenbar, der gar nicht so einfach zu lösen ist. Ist es mit einer gesunden Selbstachtung vereinbar, erlittenes Unrecht zu verzeihen? Oder verlangt der Respekt vor der eigenen Person, hart zu bleiben? Wie verträgt sich Selbstachtung mit der Bereitschaft zur Vergebung?
Selbstachtung ist zunächst einmal eine Haltung, die wir uns selbst gegenüber einnehmen. Sie ist gerichtet auf das, was wir sind und wie wir unserer Idee von uns gerecht werden. Sie wurzelt im Anerkenntnis unserer Rechte und unserer Würde. Wenn wir also mit Wut und Groll auf ein uns widerfahrenes Unrecht reagieren, halten wir unsere Ansprüche hoch, wo andere sie missachtet haben. Wir markieren Grenzen und deuten auf unsere Rechte hin. Empörung ist so gesehen Ausdruck einer funktionierenden Selbstachtung. Entsprechend erklärt die Philosophin Susanne Boshammer in ihrem Buch „Die zweite Chance“: „Der Respekt vor uns selbst verbietet uns, uns der eigenen Herabsetzung anzuschließen“. Wer anderen ein Unrecht vergibt, riskiert aber anscheinend genau das. Ein allzu schnelles Einlenken und Verzeihen könnte bedeuten, dass man die eigenen Rechte nicht sehr ernst nimmt und die Geringschätzung akzeptiert.
Doch Selbstachtung ist mehr als der Respekt vor der eigenen Person. Selbstachtung ist die Haltung, die uns sowohl zu uns selbst als auch zu anderen ins Verhältnis setzt. Sie zeigt sich nicht nur in der Aufmerksamkeit, die wir uns selbst gewähren. Sie verwirklicht sich auch und ganz besonders in der Art und Weise, in der wir anderen begegnen.
Vergebung ist ein solcher Weg, uns und anderen gleichermaßen zu begegnen. Sie ist ein Geschenk des Wohlwollens und ein Akt der Entlastung. Wenn wir bewusst verzeihen, machen wir von der Fähigkeit Gebrauch zu definieren, was andere uns schulden und was wir von ihnen erwarten dürfen. Verzeihen heißt dann z.B., auf das Einlösen einer Schuld zu verzichten. Nach Boshammer setzt das jedoch voraus, dass wir uns unserer Rechte bewusst sind und um unseren Status wissen. Es bedeutet, von dem Recht Gebrauch zu machen, auf ein anderes zu verzichten. Und genau das spricht eher für mehr als für weniger Selbstachtung. Es spricht dafür, sich von den Folgen der Vergangenheit lösen zu wollen und nach vorne zu schauen. Es spricht für den Wunsch, zu gestalten und nicht zu erdulden. Die Opferrolle abzulegen und Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen.
Das alles ist ziemlich schwierig. Es funktioniert selten von heute auf morgen, sondern braucht Zeit. Um abzuwarten, wie sich Grenzverletzer künftig verhalten oder um mit sich selbst Frieden zu schließen. Um sich heranzutasten. Vielleicht ist dann ein erster Schritt, bei kleineren Vergehen Nachsicht zu üben und über ein Unrecht hinwegzusehen. Oder eine Herabwürdigung ins Vergessen zu verbannen. Oder eben zu schmollen und auf ein Zeichen von Reue zu warten.
Was wir aber vermeiden sollten ist, uns in unserer Achtung und Entscheidung von denen abhängig zu machen, die bereits bewiesen haben, dass sie uns im Zweifelsfall geringschätzen. Selbstachtung bedeutet, dass wir uns die Erlaubnis erteilen dürfen, uns zu verschenken. Uns selbst bedingungslos aus der Hand geben und verschleudern sollten wir aber besser nicht. Und falls das doch passiert, können wir üben, uns dieses Vergehen selbst zu verzeihen.