Guckst Du

Was Selbstachtung mit Sichtbarkeit zu tun hat

Seit einiger Zeit werde ich von einem Berater mit Werbung belästigt. Mindestens zweimal die Woche erhalte ich Einladungen zu Online-Workshops. Dort könne ich von seiner einzigartigen Erfahrung profitieren und mit der von ihm entwickelten Methode mein volles Potenzial als Unternehmerin entfalten, um sechsstellige Umsätze erzielen. Mit seiner Hilfe könne ich meine „Selbstachtung pushen“, indem ich mich „endlich“ sichtbar mache. Mich ärgert diese ungebetene Werbung. Und das weniger, weil sie mein Postfach flutet, sondern vor allem, weil ich sie unverschämt finde. Dieser Herr und ich, wir kennen uns nicht. Es ist unwahrscheinlich, dass er meine Geschäftszahlen kennt. Über meine Selbstachtung habe ich mich mit ihm noch nie unterhalten, geschweige denn darüber, ob ich sie pushen möchte. Stattdessen beschleicht mich das Gefühl, dass er derjenige ist, der seine Selbstachtung zu steigern versucht, indem er sich als Wundercoach (seine Worte!) darstellt. Er ist derjenige, der in die Sichtbarkeit drängt, und zwar penetrant und in meinem Sichtfeld.

Und so beschäftigt mich die Frage, was Selbstachtung eigentlich mit Sichtbarkeit zu tun hat. Müssen wir uns sichtbar, für andere wahrnehmbar machen, um uns selbst achten zu können?

Auch wenn es kaum von der Hand zu weisen ist, dass Bestätigung und Lob von außen auf unser Selbstbewusstsein und damit auch auf unsere Selbstachtung einzahlen: Selbstachtung ist ein Selbstwertgefühl, das im Verhältnis zu uns selbst gründet und sich vorrangig daran bemisst, wie sehr wir unseren eigenen Anforderungen und Erwartungen an unser Leben gerecht werden. Demensprechend hat sie – zunächst einmal – nichts damit zu tun, ob oder wie wir für andere Menschen sichtbar werden. Wohl aber hängt sie davon ab, wie gut wir für uns selbst sichtbar werden. Selbstachtung braucht die Selbstbetrachtung oder in anderen Worten: die Selbstreflexion. Sie lebt davon, dass wir uns uns selbst zuwenden, Aufmerksamkeit schenken und so unverfälscht wie möglich in den Blick nehmen. Dass wir das, was wir an uns selber wahrnehmen, mit unseren inneren Bildern abgleichen.

Eine solche ehrliche und aufmerksame Selbstbetrachtung ist nicht leicht und oft von blinden Flecken und Wunschbildern getrübt. Daher ist es sinnvoll, Rückmeldungen von anderen einzuholen. Was ist meinem Partner, meinen Kindern, meinen Kolleginnen im Kontakt mit mir gewahr geworden? Was sagt mir das über mich und wie verhält sich das zu meinen Ansprüchen?

Selbstverständlich ist ein solches Feedback nur möglich, wenn wir irgendwie sichtbar gewesen sind. Hier liegt der feine Unterschied: Die Sichtbarkeit, die es für die Selbstachtung braucht, ist nicht die Selbstdarstellung, sondern die Resonanz auf unser Dasein und unser in Beziehung treten. Es geht darum, dass wir bereit sind, uns anzuschauen und uns wirklich anschauen zu lassen. Das ist etwas anderes, als sich sichtbar zu machen. Es ist ein sich nackt und verletzlich machen.

Wer sich zutiefst selbst achtet, muss kein Bild von sich zeichnen, sich nicht inszenieren oder ein Image aufbauen. Wer sich achtet, kann den Schleier abnehmen und sich gestatten, zu sein. Kann Rückmeldungen anderer hören und stehen lassen oder für sich nutzen, ohne sich zu erklären oder Bilder korrigieren zu müssen.

Selbstachtung bedeutet, sich selbst ernst zu nehmen, ohne der Rede wert zu sein. Sich selbst ganz buchstäblich wahr nehmen, ohne sich darstellen zu müssen.

Und so beschreiben die Psychologen François Lelord und Christophe André gerade die Tatsache, wenig Energie in die Selbstdarstellung zu stecken als Merkmal hoher Selbstachtung.

Was der Supercoach mir wohl wirklich verkaufen will, ist Hilfe beim Imageaufbau und der Markenbildung, vielleicht auch das Gefühl, bewundert zu werden. Das ist in Ordnung, aber etwas anderes als Selbstachtung und bei mir grad einfach nicht dran.

Ich sollte mich nicht ärgern, sondern einfach seine Adresse blockieren. Als mich selbst achtender Mensch habe ich seine Gedanken für die Reflexionen in dieser Kolumne genutzt. Uns lasse sie ansonsten einfach mal so stehen.


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