Stärke und Schwäche von Verletzlichkeit

Mal so, mal so

Als Berlinerin bin ich Kummer gewohnt, insbesondere, wenn es um die Inanspruchnahme von Dienstleistungen geht. Vom rüden Busfahrer („Jehn se aus de Tür, sonst bleib ick den janzen Tach hier stehn!“) bis zur kecken Bäckersfrau („Wolln se nu kiecken oder koofen?“) muss man auf klare Ansagen gefasst sein. Das gilt auch für Buchhandlungen, habe ich festgestellt. Mit zwei Ratgebern – der eine zur Frage, wie man Kränkungen weniger persönlich nehmen kann, der andere im Untertitel mit der Aufforderung, sich verletzlicher zu zeigen – stand ich an der Kasse. Der Buchhändler musterte erst die Titel, dann mich und ballerte schließlich belustigt los: „So sind se, die Frauen. Mal so, mal so. Willste nu stark sein oder schwach?“ Ich war völlig überfordert. Erstens hatte ich in diesen Gefilden nicht mit einer solchen Attacke gerechnet. Und zweitens hatte der Typ womöglich recht! In beiden Büchern ging es um Verletzlichkeit, aber mit anscheinend völlig unterschiedlichen Grundannahmen. Mal eher als Schwäche gesehen, die es zu überwinden gilt, mal als erstrebenswerte Stärke. Während ich auf das Wechselgeld wartete, suchte ich nach einer Antwort auf die Frage des Händlers. Will ich stark sein oder schwach? Mich verletzlich zeigen oder nicht? Und ganz grundlegend: Ist Verletzlichkeit eine Stärke oder eine Schwäche?

Verletzlichkeit ist nicht schön. Sie ist risikoreich und anstrengend, bürdet uns Kränkungen auf und provoziert zu Handlungen, die neues Leid produzieren. Wenn man bedenkt, dass Verletzungen in der Regel Schmerzen verursachen und die wenigsten Menschen gerne Schmerzen - physisch wie psychisch – ertragen, liegt der Schluss nahe, dass es sich bei Verletzlichkeit um eine Schwäche handelt. Das gilt umso mehr, als es doch durchaus als Stärke erscheint, kleine Spitzen und Angriffe entspannt an sich abgleiten zu lassen und sich weder als beleidigte Leberwurst zu trollen noch aggressiv zurückzuschießen. Gelassenheit gilt als Tugend, Resilienz - die Fähigkeit, mit Rückschlägen umzugehen, Enttäuschungen auszuhalten und nach traumatischen Erfahrungen zurück in den Alltag zu finden - als Kernkompetenz für ein gelingendes Leben. Das Training der seelischen Widerstandskraft ist seit Jahren Teil von Kita-Konzepten und Schulprogrammen und wird in Managementkreisen aufgegriffen, von der Fülle an Ratgebern zu diesem Thema ganz zu schweigen. Verletzlichkeit scheint also gerade nicht erstrebenswert zu sein.

Doch Verletzlichkeit hat ganz unterschiedliche Gesichter. Genauso wie die Kränkbarkeit und Zerbrechlichkeit gehören zu ihr die weitaus positiver besetze Zartheit, Empfindsamkeit oder Sensibilität. Ohne die nötige Offenheit und Nahbarkeit, die sehr verletzlich machen können, kann man kaum in echte Beziehungen treten. Unsere Empfindsamkeit spült Gefühle an die Oberfläche, die Hinweise auf tief vergrabene Wünsche und Bedürfnisse geben. Verletzlichkeit zuzulassen birgt Lebenschancen und genau das ist der Tenor derjenigen, die Verletzlichkeit als Stärke betrachten.
Zweifellos birgt der gekonnte Umgang mit unserer menschlichen Verletzlichkeit eine immense Kraft. Zuzugeben, verwundbar und getroffen zu sein, zeugt von Stärke. Verletzlichkeit zu spüren bedeutet, dass man noch am Leben ist. Auszuhalten, schwach zu sein und sich in die Schwäche hineinzubegeben, kostet Energie, ist zugleich aber ein Katalysator für Verbundenheit und Nähe, denn in unserer Verletzlichkeit sind wir alle gleich.

Trotz alledem tue ich mich schwer damit, die scheinbare Schwäche in eine ebenso scheinbare Stärke umzudeuten. Warum nicht beides, Schwäche und Stärke zugleich? In den verschiedenen Facetten begegnet uns unsere Verletzlichkeit doch permanent. Mal ist sie leichter, mal schwerer zu nehmen. Sie gehört schlicht zum Leben dazu. Oder um es mit den Worten des Buchhändlers zu sagen: So sind se, die Menschen. Verletzlichkeit ist, wie ihre Steigerung, die Sterblichkeit, Teil des Menschseins. Es macht keinen Sinn, gegen sie anzukämpfen und auch nicht, sich die nächste Verletzung zu wünschen.

Was die Ratgeber betrifft, so suchen beide nach einem fruchtbaren Kontakt mit der eigenen Verletzlichkeit, auch wenn sie sich dem Thema von entgegengesetzten Seiten nähern. Was mich betrifft: Mir ist am Ende fast egal, ob über eine Stärke oder eine Schwäche geredet wird, solange sie überhaupt beachtet und bedacht wird. Sie hinterfragen, wo sie uns überrascht. Sie ertasten, wo sie uns Angst macht. Sie nutzen, wo sie Verbindung herstellen kann. Will ich stark sein oder schwach hat der Buchhändler gefragt. Beides, wenn es geht und in ganz unterschiedlichen Facetten. Mal so, mal so eben.


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