Neulich habe ich mein Büro aufgeräumt. Und weil in meinen Ordnern keine Triggerwarnung eingebaut ist, stolperte ich unvermittelt über die Unterlagen zu einem Training, das mich vor Jahren Schweiß und Tränen gekostet hatte. So gut ich das Ganze verdrängt hatte, so schmerzlich stand es mir nun wieder vor Augen. Zwei Tage hatte ich mit High Potentials zum Thema Führung arbeiten sollen. Menschen Mitte zwanzig, mit ausgezeichneten Abschlüssen an renommierten Unis, Auslandserfahrungen und tollen Praktika. Beste Voraussetzungen für mich, die eigenen Komplexe zu pflegen.
Um es kurz zu machen: Schon nach der ersten Übung hätte ich am liebsten hingeschmissen. Ich musste all meine Selbstachtung und Professionalität zusammenkratzen, um die Tage durchzuziehen und präpotente Kommentare, Arroganz und Überheblichkeit nicht bissig zu erwidern. Es war echt nicht schön. Aber mit dem Abstand und der gewonnenen Erfahrung dämmert mir heute, welche Mechanismen dort am Werk gewesen sein könnten. Sehr wahrscheinlich haben die Teilnehmer mindestens ebenso um ihre Selbstachtung gekämpft wie ich. Und zu ihrem Schutz haben sie einiges von dem aufgefahren, das die Psyche zu bieten hat – und das bei mir als purer Widerstand angekommen ist.
Wir alle greifen regelmäßig auf unterschiedliche Abwehrmechanismen zurück, um unsere Selbstachtung zu schützen. Sie dienen dazu, uns schmerzliche Gefühle zu ersparen. Wie ein Puffer für die Seele verschaffen sie uns - in der Regel unbewusst - emotionale Entlastung, indem sie die Realität für uns umbauen oder helfen, ihr auszuweichen.
„Meine“ High Potentials etwa diskutierten sämtliche Methoden und verweigerten Übungen. Durch ein solches Vermeiden, ein ziemlich verlässliches Muster zum Schutz der Selbstachtung, weicht man der Gefahr eines Misserfolgs aus. Man kann weiterhin vor sich selbst geradestehen. Weil Vermeidungsstrategien aber als Schwäche ausgelegt werden könnten und das Eingeständnis von Angst ja gerade vermieden werden soll, hilft das Rationalisieren. Dabei werden logisch-rationale Beweggründe für das eigene Verhalten angegeben („Die Übung ist realitätsfern! Die bringt uns nichts!“). Diese liegen im Außen und sind sicher abgeschirmt von inneren Empfindungen. Was die Truppe auch gut konnte, war das Intellektualisieren. Als ich sie bat, bestimmte Erfahrungen zu reflektieren, wurde ich aufgefordert, zunächst Reflexionsmethoden vorzustellen und zu diskutieren. Die Abwehr besteht hier darin, sich durch theoretisches Analysieren und Einnehmen einer abstrakten Perspektive von der konkreten Situation zu distanzieren und damit verbundene unangenehme Gefühle wegzuspülen. Und ein Mechanismus, den ich offenbar gut beherrsche, ist die Verdrängung. Die Fähigkeit, unangenehme Erinnerungen auszublenden und ins Unbewusste zu schieben – so geschehen mit diesem Seminar, das mich an meine Grenzen führte.
Um eines klarzustellen: Nicht hinter jedem Vermeiden, Verdrängen, logischem Erklären oder Hinterfragen steckt ein Abwehrmechanismus. Aber oft ist es der Fall und das ist erstmal nicht schlimm. Psychische Abwehrmechanismen sind eine hilfreiche Erfindung der Natur. Aber auch hier gilt: Die Dosis macht das Gift. Wer sich dauerhaft vor unangenehmen Gefühlen „schützt“, missachtet einen entscheidenden Teil seines Selbst.
Mechanismen, die auf den ersten Blick geeignet sind, unsere Selbstachtung zu stabilisieren, untergraben sie also auf Dauer.
Wenn wir unsere Selbstachtung wirklich stärken wollen, kommen wir nicht umhin, uns auch unbequemen Seiten ins uns zu stellen und Verantwortung für die dunklen Gefühle zu übernehmen.
Dabei hilft es, Ehrlichkeit gegen – eigentlich ja für! – uns selbst zu ritualisieren und uns regelmäßig zu fragen: Was hält mich ab? Was will ich wirklich? So gelingt es, weniger zu vermeiden und zu verdrängen und besser für sich einzustehen. Es kann helfen, Emotionen, für den Anfang vielleicht vor allem die Positiven, ganz bewusst zum Thema zu machen, um das Intellektualisieren auszutricksen. Und es hilft, andere ins Boot zu holen, Sichtweisen und Einschätzungen von Freunden zu erfragen, um die eigene Wirklichkeit zu überprüfen. Nichts ist schlimm daran, hin und wieder den Stoßdämpfer für die Seele anzuschalten. Tun wir das aber auf Dauer, verlieren wir den Kontakt zu uns selbst, Und das wäre doch schade. Denn das wäre ganz eindeutig ein Fall von Selbstmissachtung.