In der vergangenen Woche wurde ich binnen weniger Tage auf Bahnhöfen Zeugin zweier bewegender Szenen. Einmal bei der Abfahrt: Neben mir auf dem Bahnsteig stand ein junges Paar, eng aneinandergeschmiegt, beide mit Tränen in den Augen. Sie klammerten sich aneinander, auch, als er schon im Zug stand und sie auf dem Bahnsteig, und ließen sich erst los, als die Tür automatisch schloss. Zwei Tage später, anderer Bahnhof: Eine Frau steigt aus dem Zug und fällt einem wartenden Mann um den Hals, er wirbelt sie herum wie im Film. Beide küssen sich immer wieder, um dann Arm in Arm strahlend gen Ausgang zu schlendern. Mich berühren solche Bilder, denn viele Jahre habe ich selbst eine Fernbeziehung geführt. Der Schmerz des Abschiednehmens und die Freude des Wiedersehens sind mir in fester Erinnerung. Ich bin froh, inzwischen mit meinem Partner zusammen zu leben. Die Zeiten ohneeinander waren oft unerträglich. Aber ich muss auch sagen: Die Distanz hat unserer Beziehung keinen Abbruch getan. Wie kann das sein? Wieviel Nähe braucht die Liebe eigentlich, um zu gedeihen?
Wenn es um das Ausmaß an Nähe in Beziehungen geht, scheint die Antwort simpel: Es kommt darauf an. Menschen sind unterschiedlich, die einen brauchen mehr Raum und Distanz, andere dagegen brauchen möglichst viel gemeinsame Zeit und dabei auch viel Körperkontakt. In ihrem philosophischen Dialog „Archipel der Leidenschaften“ machen Charlotte Casiraghi und Robert Maggiori genau diese Beobachtung. Liebe braucht Nähe, denn der Körper fordert Kontakt ein, will buchstäblich berührt werden und eine räumliche Trennung führt oft zum Erkalten der Gefühle. Physische Nähe scheint bedeutsam zu sein. Gleichzeitig gibt es Lieben über große Distanzen, in denen „aus den Augen“ keinesfalls auch „aus dem Sinn“ bedeutet. So kommen Casiraghi und Maggiori zu dem Schluss, dass sich weder das rechte Maß an Nähe und Distanz in der Liebe bestimmen lässt noch, dass das Ausmaß von Nähe in einer Beziehung immer gleich sein muss. Zur Liebe gehört, sich mal näher und mal ferner zu sein, unabhängig davon, ob einen Ozeane trennen oder man am selben Tisch sitzt.
Allerdings identifizieren sie zwei Pole, zwischen denen Liebe sich bewegt und jenseits derer sie nicht mehr bestehen kann: Verschmelzung und Dualität. Verschmelzung ist das Zuviel an Nähe, das keine Liebe mehr zulässt, weil es weder liebendes Subjekt noch geliebtes Objekt gibt. Liebe braucht aber das Gegenüber, auf das sie sich beziehen kann. Dualität – oder Agonie, wie Casiraghi und Maggiori auch sagen - ist das Zuviel an Distanz, das keine Liebe zulässt, weil im kalten Beisammensein kein Kontakt besteht und alles auseinanderfällt. Verschmelzung und Dualität sind die Grenzen. Im Raum dazwischen kann Liebe gedeihen und braucht eben die Distanz, in der jeder Partner, jede Partnerin er oder sie selbst bleiben kann und die Nähe, in der die Wärme des anderen spürbar bleibt.
So betrachtet ist die spannende Frage vielleicht nicht, wieviel Nähe Liebe braucht, sondern eher, von welcher Qualität sie sein sollte. Ich glaube, der Schlüssel heißt Verbindung. Ich war nie gut in Chemie, meine mich aber zu erinnern, dass Verbindung durch Austausch entsteht. Verbindung durch Austausch entstehen zu lassen bedeutet, den anderen zu sehen und sich selbst sehen zu lassen. Worte des anderen aufzunehmen und sich selbst ins Wort zu bringen. Dem anderen Halt zu geben und sich selbst halten zu lassen, Energie vom anderen aufzusaugen und selbst Energie abzugeben. Zur Verbindung durch Austausch gehört die Bereitschaft, sich im Austausch zu verändern und die Offenheit, dass auch der andere sich ändert. Die Neugier, ob im Austausch vielleicht sogar etwas ganz Neues hervorgebracht werden kann. Solange eine Verbindung durch Austausch besteht, wird Herzenswärme erzeugt und Liebe kann sich ereignen. Solcherlei Verbindung kann bestehen, wenn viele Kilometer zwischen den Personen liegen. Und sie kann fehlen, wenn einen nur das Bettlaken trennt. Sie kann bestehen, wenn man gemeinsam schweigt. Und sie kann fehlen, wenn man stundenlang miteinander redet. Sie kann bestehen, obwohl der andere einem gerade den Rücken zukehrt. Und sie kann fehlen, wenn man sich tief in die Augen blickt.
Was meinen Partner und mich betrifft, ist es uns wohl gelungen, die Verbindung zu halten. Ich bin dankbar, dass uns dies geglückt ist. Und es fühlt sich nach wie vor gut an, wenn nur ein Bettlaken zwischen uns liegt. Oder wenn wir zusammen schweigen.