Jedes Mal, wenn ich Paris besuche, gehe ich ins Musée Rodin.
Meine Begeisterung für diesen Ort ist vielschichtig. Da sind die Werke an sich. Lebendig und warm, obwohl aus Bronze oder Marmor. Da ist die Person des Künstlers. Ein Beamtensohn, der - dreimal abgewiesen von der École nationale supérieure des beaux-arts – dennoch seinen Weg ging und heute als richtungsweisender Bildhauer für die Moderne gilt. Und dann ist da die Bildhauerei als Kunstform. Für mich der Inbegriff von Schaffenskraft. Das Vermögen, aus einem unförmigen Stück Stein Körper und ganze Szenerien entstehen zu lassen, beeindruckt mich maßlos. Und so kann ich stundenlang zwischen den Exponaten hin und her schlendern oder im zauberhaften Garten des Museums sitzen und mit Blick auf die schönsten Skulpturen darüber sinnieren, was Menschen zu solcher Schöpfungsleistung bringt.
Spontan bin ich geneigt zu sagen, dass es Leidenschaft ist, die die Schaffenskraft nährt und Menschen Neues schöpfen lässt. Das passt fabelhaft in mein Weltbild, wird jedoch sofort widerlegt, wenn ich an mich selber denke: Ich singe leidenschaftlich gern, bedauerlicherweise aber völlig talentfrei. Fragen Sie meine Nachbarn. Bei aller Leidenschaft fürs Singen bin ich weit davon entfernt, musikalische Neuheiten zu kreieren.
Gewiss ist Leidenschaft die Kraft, die Menschen antreibt. Sie verleiht Mut und Ausdauer, Disziplin und Risikobereitschaft und lässt Mühen und Rückschläge aushalten. Sie ist Energiequelle und Motor. Das allein aber macht noch keine schöpferische Kraft aus.
Ich denke, dass es dafür mehr braucht. Es braucht eine Idee, ein Bild im Geist, zu dem man hingezogen wird. Je klarer solche Bilder sind, desto größer kann das Streben danach werden, desto mehr kann die Leidenschaft dafür brennen.
Blaise Pascal sagt, dass man ohne Geist selbst in der Leidenschaft ein Stümper bleibe. Denn die Klarheit des Geistes verursache auch die Klarheit der Leidenschaft.
Dabei ist der Geist keineswegs gleichbedeutend mit Vernunft. Geist ist der Raum, in dem Ideen wie Funken zünden können. Es geht um das, was wir auch im Deutschen mit dem Begriff Esprit umschreiben. Etwas, das Raum lässt für pfiffige, gewitzte, eigenwillige Gedanken. Es geht um die Weite des Herzens, die ein Querdenken zulässt. Was häufig gerade erst dann gelingt, wenn man den Verstand ausschaltet.
Leidenschaft ist stets auf etwas gerichtet, das sie begehren kann. Sie braucht ein Ziel. Je klarer und je stärker geistig durchdrungen das Ziel der Begierde ist, desto mehr kann die Leidenschaft brennen.
Ein kreativer Urknall entsteht erst, wenn die Energie der Leidenschaft auf einen klar leuchtenden Ideenfunken trifft. Auf das buchstäblich geistreiche Bild von etwas Neuem. Nicht auf die fixe Idee, ein vages Bild. Sondern auf etwas, das Gehalt hat und dessen Tragweite erfasst wird.
Leidenschaft wird da zur schöpferischen Macht, wo sie sich mit Esprit vermählt.
Irgendwie finde ich es schade, dass Leidenschaft allein nicht genügt. Aber irgendwie ist es auch ganz gut so. Es lässt mich hoffen, dass die fixen Ideen ihren Wert im Kommen und Gehen haben. Und dass gute Ideen Bestand haben – so wie Rodins Skulpturen aus Bronze und Stein.
