Seit ein paar Monaten habe ich ein eigenes Pferd. Seither verbringe ich zu meiner Freude nicht nur viel Zeit im Sattel, sondern vor allem viel Zeit im Stall und an der Pferdekoppel. Es ist herrlich, den Pferden zuzuschauen. Wie sie übermütig über die Koppel pesen und dabei regelrechte Bocksprünge vollführen. Wie sie kraftvoll ausfechten, wer Chef der Gruppe ist. Wie die Stuten, wenn sie rossig sind, keck den Schweif heben und quietschen und selbst Wallache ihnen ergeben nachlaufen. Wie sie mit hängendem Kopf vor sich hindösen, versunken am Heu knabbern oder sich genüsslich im Sand wälzen. Was auch immer sie tun, sie scheinen dabei vollkommen im Hier und Jetzt zu sein. Lebenskraft und Lebenslust, die auch in Augenblicken der Ruhe da sind, springen dann förmlich über und fluten mich mit einer Welle aus Liebe. In etwas weniger pathetischen Momenten möchte ich diesem Gefühl auf den Grund gehen und komme nicht umhin zu fragen: Könnte Lebenslust tatsächlich ein Ausdruck von Liebe sein? Ist sie möglicherweise sogar ein Weg dorthin? Können wir über Lebensfreude die Liebe ganz einfach in unser Leben holen?
Die Frage mag absurd erscheinen, denn Lebenslust wird eigentlich eher mit Hedonismus als mit Liebe in Verbindung gebracht. Und eine hedonistische Lebenseinstellung gilt ihren Kritikern eher als Bankrotterklärung in Sachen Liebe denn als Weg zu mehr Liebe. Hedonismus betrachtet Lust als höchstes Gut und als erstrebenswert all das, was diese vergrößert. Leben nach dem Lustprinzip hat Charme, birgt aber auch die Gefahr, sich in Unverbindlichkeit zu verlieren. Der große Vorwurf an den Hedonismus ist, dass er radikalen Egoismus fördert und sämtliche Beziehungen und Emotionen inklusive der Liebe in den Dienst des persönlichen Lustgewinns stellt. Andere, liebende wie geliebte, Menschen werden zu Statisten im Spiel der individuellen Lustbarkeit. Liebe ereignet nicht mehr um ihrer selbst willen, sondern zum Nutzen eines einzelnen Subjekts. Sie verliert so ihren Selbstwertcharakter. So verstandene Lebenslust schient Liebe also nicht zu fördern.
Anders stellt es sich dar, wenn man Lebenslust nicht als hedonistisches Prinzip betrachtet, das überwiegend im Außen spielt, sondern als ein schlichtes inneres Empfinden. Lebenslust ist dann weniger die Freude an schönen Dingen oder Ereignissen, sondern die Freude in mir. Sie ist Freude und Heiterkeit an sich. Als das Erleben einer bedingungslosen Lust am Sein hat sie für mich ganz viel mit Liebe zu tun. Das liegt auch daran, dass wir Lebenslust besonders gut in Momenten erleben können, in denen wir vollkommen im Hier und Jetzt sind und uns des Augenblicks gewahr werden.
Das völlige Eintauchen in den Moment gestattet uns, Sorgen und Ängste hinter uns zu lassen und ja zu sagen, zu dem, was ist. Und das Ja zum Leben ist Ausdruck von Liebe.
Wenn wir Lebenslust verspüren, weil wir ganz im Moment ankommen und uns unserer selbst gewahr werden, haben wir die Möglichkeit, uns als Teil eines großen Ganzen zu verstehen. Wer sich als Manifestation der Schöpfung begreift, ausgestattet mit der Möglichkeit zum Handeln, kann fast nicht anders, als ja zu den eigenen Potenzialen zu sagen und diese auch zu nutzen. Potenzial will sich entfalten, Dasein möchte mehr Dasein, mehr Leben und dementsprechend Schöpfungskraft entfalten. Diese Art des Ja zum Sein ist für mich Liebe.
Wie aber kommt diese innere Freude ins Leben, wenn der äußere Lustgewinn gerade nicht der Weg sein soll?
Eine Möglichkeit ist, sich in Staunen und Dankbarkeit zu üben. Das funktioniert besonders einfach im Frühling, wenn die Natur aus dem Winterschlaf erwacht und allerorten Verwandlung zu beobachten ist.
Ein anderer Weg wäre, zu schmunzeln und zu lachen - am besten zusammen mit anderen - über all die Kuriositäten und Wunder, die uns alltäglich begegnen. Vom witzigen Meme auf Instagram über den ulkigen Gang des Nachbarhundes bis zur abstehenden Haarsträhne auf unserem Kopf oder dem zufälligen Treffens einer alten Bekannten im Supermarkt.
Und nicht zuletzt hilft, wie schon gesagt, das bewusste Erleben des Augenblicks: Das kurze aber genüssliche Räkeln morgens nach dem Aufwachen. Das Schnuppern, wenn es im Treppenhaus nach Kaffee duftet. Das Durchatmen, wenn man in der Pause ans offene Fenster tritt. Oder das Versinken in einer Tätigkeit ohne jedes Ziel. Etwa, eine halbe Stunde an der Koppel zu stehen und Pferden zuzuschauen.
Lebenslust bewundert das Leben und sagt ja zu ihm in all seinen Facetten. Und wenn wir anfangen ja zu sagen, aus der Freude an der Möglichkeit und am Wunder, dann fangen wir an, einfach zu lieben.