Gesundes Mittelmaß

Warum es kein Zuviel an Freundlichkeit gibt

Auf Instagram bewege ich mich einer Blase mit vielen Coaches, für die Persönlichkeitsentwicklung ein großes Thema ist. Gerne nutze ich die Anregungen zur Selbstentwicklung für meine Arbeit. Aber neulich ging mir das echt zu weit. Dick und fett blinkte mich die Frage „Bist Du ein People Pleaser?“ an. Beschrieben wurde dieser anscheinend der Heilung bedürftige Typ Mensch als verständnisvoll, selbstkritisch und hilfsbereit, kurz als Mensch, der stets freundlich ist und sein will. Ich stutzte. Nicht nur, weil ich mich selbstkritisch (ein Symptom?) fragte, ob ich auch in diese Kategorie fiele, sondern weil ich Freundlichkeit für eine Tugend halte, von der ich mir eher mehr denn weniger wünsche. Auf den ersten Blick wurden hier Leute für „krank“ erklärt, die bereit sind, auch mal zurückzustecken. Was ich als sozialverträglich bezeichnen würde, schien für andere pathologisch. Ich scrollte weiter durch bunte Bilder, kam aber nicht umhin zu fragen: Was ist falsch daran, nett sein zu wollen? Und: Gibt es überhaupt ein Zuviel an Freundlichkeit?

Um mit dem Einfachen, weil Offensichtlichen, zu beginnen: Natürlich gibt es Menschen, die wir als zu freundlich erleben. Die beflissene Bedienung im Restaurant, die alle drei Minuten am Tisch steht, um sich nach dem werten Befinden zu erkundigen; die schmeichelnde Verkäuferin, die sich vor Komplimenten überschlägt; der joviale Zugbegleiter, der, wofür auch immer, alle Hühneraugen zudrückt – wir alle kennen das und spüren: Hier wird es mit der Freundlichkeit übertrieben. Eigentlich geht es nicht um uns, sondern etwas ganz anderes. Es fühlt sich unangenehm, weil nicht mehr echt an und genau das ist es auch. Unecht. Das bedeutet aber auch: Eigentlich haben wir es nicht mit zu viel Freundlichkeit zu tun, sondern mit Schmeichelei. Und das ist etwas anderes.

Schwieriger ist die Einordnung bei den erwähnten People Pleasern. Die sind, das muss man ihnen lassen, wirklich freundlich. Ihr Anliegen ist Hilfe und Unterstützung, sie wollen für andere da sein. Vom Zuviel an Freundlichkeit sprechen Psychologen bei ihnen vor allem deshalb, weil das freundliche Verhalten der People Pleaser in der Regel auf ihre Kosten geht. Verträglich und kompromissbereit wie sie sind, werden sie von weniger wohlmeinenden Menschen gerne ausgenutzt. Sie leisten mehr, als ihnen selbst auf Dauer guttut und Beziehungen geraten in Schieflage.

Das ist bedauerlich, strenggenommen aber ebenfalls keine Frage eines „Zuviels“ an Freundlichkeit. Denn wie bei der Schmeichelei steckt auch hinter dieser Freundlichkeit eine zweifelhafte Motivation. Die mag weniger sichtbar sein und oft auch unreflektiert, aber ebenso mächtig. People-Pleasing ist eine Form von Abhängigkeit und durchaus eigennützig motiviert. Viele Dauer-Hilfsbereite suchen nach Anerkennung und Gegenleistung in Form von Bestätigung und Wertschätzung. Es ist dieses ungesunde Verlangen nach Anerkennung auf der einen Seite gepaart mit Eigennutz auf der anderen Seite, das in Beziehungen zum Problem wird - nicht ein Zuviel an Freundlichkeit.

Freundlichkeit gilt als Tugend und nach Aristoteles ist dies die goldene Mitte zwischen zwei Lastern. Der Tugend wohnt inne, genau richtig zu sein, eben nicht zu viel oder zu wenig. Mangel und Übermaß hingegen kennzeichnen die Untugend. Die ist es auch, die - wie die wie oben beschriebene Schmeichelei bzw. Gefallsucht- zum Problem wird. Es gibt kein Zuviel an Tugendhaftigkeit, denn sie ist Ausdruck des rechten Maßes schlechthin. Gleichzeitig ist es unendlich schwierig, dieses Maß zu treffen, weil objektiv unmöglich, es zu bestimmen. Was die einen noch als freundlich empfinden ist für die anderen schon schleimig; wo manch einer sich über Rüpelhaftigkeit ärgert, bleiben andere völlig entspannt. Die Deutung eines Verhaltens liegt letztlich beim Empfänger. Ob aus gemeinter Freundlichkeit gefühlte Gefallsucht wird entscheidet er. Unabhängig davon sollte die handelnde Person für sich wissen, warum sie handelt und wieviel sie leisten kann.

Es ist nichts falsch daran, nett sein zu wollen und es ist auch nicht per se heilungsbedürftig. Aber wer anderen auf gesunde Weise freigiebig zugeneigt sein will, braucht mindestens zwei weitere Tugenden: Mut und Wahrhaftigkeit. Dann klappt es auch mit dem gesunden Mittelmaß.


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