Kurz nach der Geburt meiner Tochter zog ich mit einer Freundin zum Shoppen los. Ich brauchte dringend neue Hosen. Damals ging es gerade los mit Skinny-Jeans, also sehr schmal geschnittenen Modellen. Angesichts der Tatsache, dass meine Körpersilhouette eher einem A als einem V entsprach kein einfaches Unterfangen, ein passendes Stück zu finden. Nach längerer Suche fand ich endlich eine Hose, die passte. Mir gefiel sie gar nicht so schlecht. Meine Freundin aber kommentierte knallhart: „Sieht aus wie Presswurst.“. Ich schätze Offenheit und eine direkte Art. Und natürlich hatte ich meine Freundin nicht nur zum Kleider anreichen, sondern auch für den kritisch prüfenden Blick zum Einkaufen mitgenommen. Trotzdem hätte sie Ihre Rückmeldung auch freundlicher geben können. Ich grummelte, gab ihrem Vortrag darüber, dass die Wahrheit manchmal eben bitter sei, Ehrlichkeit zwingend zu einer Freundschaft gehöre und sie generell nichts von falscher Freundlichkeit halte, aber schließlich Recht.
Mit dem Abstand von heute kommen mir Zweifel. Ist es denn nicht gerade ein Zeichen von echter Freundlichkeit, wenn wir unsere Meinung etwas weniger offen und direkt kundtun?
Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Natürlich ist Ehrlichkeit eine Tugend und ich möchte niemanden zum Lügen ermuntern. Genauso wenig will ich Freundlichkeit gegen Ehrlichkeit ausspielen. Andererseits komme ich nicht umhin festzustellen, dass die Handlungsmaxime der Ehrlichkeit im zwischenmenschlichen Miteinander schnell an Grenzen stößt. Niemand möchte belogen werden, gleichzeitig lässt sich - wie das Beispiel meiner Skinny-Jeans zeigt -, die Wahrheit nur schwer ertragen, wenn sie den eigenen Ideen widerspricht.
Paradoxerweise scheint mir gerade die Freundlichkeit der Schlüssel zum Umgang mit dieser Doppelmoral zu sein.Wir wünschen uns, dass man aufrichtig mit uns ist und uns dabei nicht weh tut. Welche andere Haltung als freundliche Nachsicht könnte damit besser umgehen? Im Allgemeinen gilt als freundlich, wer seinen Mitmenschen liebenswürdig, wohlwollend und wertschätzend begegnet. Dazu gehört auch, die Regeln der Höflichkeit zu wahren und sich in Zurückhaltung zu üben. Echte Freundlichkeit zeigt sich für mich besonders in dieser Zurückhaltung.
Zurückzuhalten gilt es aber nicht die Wahrheit schlechthin, sondern unsere individuelle Wahrheit, die nicht mehr und nicht weniger ist als unsere persönliche Sicht auf die Welt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass unsere Wahrheit sich grundlegend von der unseres Gegenübers unterscheidet. Menschen, die gnadenlos offen und direkt sind, neigen dazu, das zu übersehen. Sich selbst nicht zum Maß aller Dinge zu machen und von der Andersartigkeit der anderen auszugehen kann dazu beitragen, die eigene Meinung weniger drastisch zu formulieren oder sogar erst einmal ganz für sich zu behalten – und damit höflich und freundlich zu bleiben.
Offene und sehr direkte Ansagen beruhen außerdem oft auf der fälschlichen Annahme, dass der andere robust genug ist, dies auszuhalten. Das Vertrauen darauf, dass der andere „das schon aushält“ hat allerdings mehr mit Einfalt denn mit Ehrlichkeit zu tun. Und so zeichnet sich echte Freundlichkeit für mich auch dadurch aus, die Verletzlichkeit und Bedürftigkeit des Gegenübers wahrzunehmen und Sanftmut walten zu lassen. Mit diesem Bewusstsein werden wir eher bestärken, bestätigen, anerkennen, Wege unterstützen, als mit allzu direkten Aussagen zu kränken.
Zutiefst und echt freundliche Menschen werden kaum Bemerkungen machen, die sie nicht mehr zurücknehmen können. Sie wissen, dass andere Menschen andere Wahrheiten haben, dass die wenigsten Ideen vollkommen falsch oder wertlos sind und dass sie selber irren können. Insofern halten sie sich zurück mit vorschneller, undifferenzierter Kritik. Echt freundliche Menschen sind eigenen Impulsen gegenüber auf gesunde Weise misstrauisch. Sie wissen, dass auch sie sich sehr widerwärtig verhalten können und haben diese Seite im Blick. Anderen die Zumutung der eigenen Abgründe und subjektiven Wahrheiten zu ersparen, finde ich - besonders im Raum des ungeschützten Alltags - nicht unehrlich, sondern echt freundlich.
Der Kontakt zu meiner Freundin hat sich über die Jahre übrigens verlaufen. Einfach so, ohne großen Streit und Eklat. Vermutlich, weil wir dafür dann doch freundlich genug miteinander umgegangen sind.