Aus gutem Grund?

Warum wir vielleicht gar nicht so selten unfreundlich sind

Kürzlich war ich in einen E-Mailverkehr eingebunden, bei dem mir angesichts des Umgangstons die Spucke wegblieb. In der Sache ging es um einen anscheinend fehlerhaften Link. Eine neue Kollegin hatte ihn einer Projektgruppe geschickt. Eines der Mitglieder meldete ohne jede Anrede und nur mit „Gruß“ ein technisches Problem zurück. Ich wurde eingeschaltet, weil ich als Projektleiterin den Link hatte erstellen lassen. Auf meinen - wie ich fand - freundlichen Klärungsversuch hin erhielt ich die Antwort postwendend. Mit zahlreichen Ausrufezeichen, Großbuchstaben (die lese ich in Mails immer als Gebrüll) und dem Auftrag, die technischen Probleme im Urschleim der Organisation sofort zu beheben. Ich war platt. So etwas hatte ich noch nicht erlebt, schon gar nicht im Umgang mit Personen, die mir völlig unbekannt sind. Und während ich tief durchatmete und überlegte, wie ich auf diesen Ausfall am besten reagieren sollte, kam ich nicht umhin zu fragen:

Warum verhalten sich Menschen derart unfreundlich?

Es mag etwas technisch erscheinen, aber mir bietet hier die sog. Leistungsformel mit den Leistungsfaktoren Wissen, Wollen, Können und Dürfen ein Erklärmodell. Menschen verhalten sich demnach unfreundlich, wenn einer der Leistungsfaktoren nicht erfüllt ist.

Option 1 also: Wir sind unfreundlich, weil wir es nicht besser wissen. Vielleicht sind wir einen rüden Umgangston aus unserem Umfeld gewohnt. Vielleicht fehlen uns Informationen zu gängigen Umgangsformen. Unwissentlich zeigen wir ein Verhalten, das in unserer Welt völlig in Ordnung ist, den Betroffenen aber als Unverschämtheit erscheint. In oben geschildertem Fall bin übrigens ich in einen solchen Fettnapf getappt: Versehentlich habe ich in der Anrede die akademischen Titel unterschlagen und die in den Ohren meines Gegenüber vielleicht zu jovial klingende Anrede „Lieber Herr…“ statt „Sehr geehrter Herr Prof.“ gewählt – etwas, das ich im Nachgang sehr bedaure.

Option 2: Wir sind nicht freundlich, weil wir nicht freundlich sein wollen.

Es passt zwar nicht in mein Weltbild, ist aber kaum von der Hand zu weisen: Oft genug sind wir nur deshalb nicht nett sind, weil wir meinen, Freundlichkeit nicht nötig zu haben. Es gibt Untersuchungen, die darauf hindeuten, dass der Rückzug auf wenige enge Freundschaften Menschen außerhalb dieser intimen Kreise weniger liebenswürdig auftreten lässt. Weil wir uns als Mitglied einer Gruppe sicher fühlen, werden wir im Außen unachtsam. Das gilt umso mehr, wenn man Freundlichkeit als etwas betrachtet, wovon man sich freundliche Gegenleistungen erhofft. Etwas, was im Fall oben zutreffen könnte – der Herr hat sein Team und ist in keinster Weise auf mich aufgewiesen, muss also nicht nett zu mir sein.

Option 3: Wir sind unfreundlich, weil wir es nicht besser können. Die Ursachen dafür können zahlreich sein. Wenn wir unter Stress stehen sind wir z.B. so mit uns selbst beschäftigt, dass unser Vermögen Mitgefühl zu zeigen geschmälert ist. Wir sind nicht mehr im Stande zu erfassen, was der andere gerade braucht oder uns an allgemeine Regeln von Höflichkeit zu halten. Wenn wir uns ärgern und schlecht gelaunt sind, sorgt emotionaler Stress dafür, dass wir nur schwer steuern können, wo und wie wir Spannungen entladen. Häufig trifft der heiße Dampf, den wir ablassen, dann die falsche Person. Vor allem aber verhalten wir uns oft genug gemein, weil wir selber leiden. Weil wir tief in unserem Inneren verletzt und gekränkt sind, werden wir bitter und unverschämt. Unser meist unbewusster Schmerz und Kummer machen uns unleidig. Wir benehmen uns wie quengelnde Kinder, nur dass in unserem Fall unsere Seele schmerzt, müde oder hungrig ist.

Und schließlich sind wir – Option 4 – unfreundlich, weil wir manchmal meinen, nicht freundlich sein dürfen.

Wir sehen uns Loyalitätszwängen ausgesetzt, die Fronten aufmachen und Freundlichkeit verbieten. Von Mafia-Strukturen weiß man: Wer zur falschen famiglia gehört, lebt gefährlich. Es ist hochgradig unwahrscheinlich, dass die Mafia etwas mit der oben geschilderten Unfreundlichkeit zu tun hat, wohl aber könnte es sein, dass ich einfach auf der „falschen“ Seite der Organisation stand und deshalb eine Breitseite abbekommen habe.

Angesichts der vielen Anlässe für Unfreundlichkeit erscheint es mir fast erstaunlich, dass Menschen nett zueinander sind. Es gibt viele Gründe, die nichts entschuldigen, aber Vieles erklären. Ob es gute Gründe sind, muss jeder selbst entscheiden.


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