Bella Figura

Warum ein schönes Leben ein Ausdruck von Selbstachtung sein kann

Ich habe eine sizilianische Freundin. Sie ist weise, fürsorglich und gütig. Mit großem Herzen und immer einem Lächeln auf den Lippen führt sie ein strenges Regiment auf ihrem Agriturismo. Alles muss passen. Die Tische sind liebevoll gedeckt, Bettüberwürfe werden so lange zurecht gezupft, bis sie genau richtig liegen und in den Topf kommen nur die besten Zutaten. Wenn jemand ein Problem hat – kein Thema, nahezu alles lässt sich arrangieren. Und obwohl sie von früh bis spät auf den Beinen ist und überall Hand anlegt, ist sie immer zurecht gemacht: Die Haare frisiert, die Kleider korrekt und die Schürze sauber, stets etwas Lippenstift aufgelegt. Beim letzten Besuch aber, nach einem üppigen Abendessen in wundervoller Atmosphäre, spürte ich Erschöpfung bei meiner Freundin. Ich fragte sie: „Sorgst Du auch für Dich oder nur für Deine Gäste?“. Sie lächelte: „Christiane, ich mache Bella Figura.“. Ich schaute fragend und sie erklärte: „Ich mache es uns allen so schön wie möglich. Das ist manchmal anstrengend. Aber wir sind es uns wert, dass wir uns Mühe geben. Denn das Gute kommt zurück.“. An diesem Abend ging ich nachdenklich zu Bett. Bella Figura – könnte es sein, dass ich dieses Konzept bislang völlig falsch verstanden hatte? Und dass es ein sehr charmanter Weg ist, sich in Selbstachtung zu üben?

Salopp gesagt beschreibt der Begriff der Bella Figura die Kunst, gut dazustehen und nicht unangenehm aufzufallen. Es geht um den - ersten – Eindruck, der möglichst positiv ausfallen soll. Was verdächtig nach Selbstdarstellung riecht, ist jedoch weit mehr als eine Frage der äußeren Erscheinung. Wesentlicher Teil eines gepflegten Auftretens sind auch gutes Benehmen, Etikette, Höflichkeit und Großzügigkeit. Bella Figura bedeutet, nicht schlecht über andere zu reden (zumindest nicht in der Öffentlichkeit), sie gut dastehen zu lassen, nicht in Verlegenheit zu bringen und vor Gesichtsverlust zu bewahren. Das attraktive Äußere ist also nur ein kleiner, wenn auch feiner Teil des Konzepts und im Idealfall ist es Ausdruck eines aufgeräumten Inneren. Das Bild soll stimmen und niemandem Schande machen. Man kann das zweifelhaft finden oder sich getäuscht fühlen. Ich gestehe, ich habe das Prinzip bisher für ganz nett, aber eben oberflächlich gehalten. Nach der Erklärung meiner Freundin aber bin ich überzeugt: Diese Haltung ist Ausdruck einer großen Achtung - vor sich selbst und vor anderen. Bella Figura ist eine Lebensphilosophie, bei der es darum geht, auf die Macht der inneren und äußeren Schönheit zu setzen. Dazu gehört, in allem das Gute und Schöne zu sehen und wertzuschätzen. Es so sehr zu achten, dass man es in den Vordergrund stellt. Es ist der Versuch, aus jeder Situation das Beste zu machen, aus allem das Beste herauszuholen. Auch aus sich selbst.

Sich von seiner besten Seite zeigen kann nur, wer um diese Seite weiß und sie für wertvoll erachtet. Höflich und freundlich zu bleiben bedeutet dann nicht, sich hinter einer Maske zu verstecken, sondern sich nicht ohne Not anderen in der eigenen Hässlichkeit zuzumuten. Stattdessen macht man ihnen – und sich selbst – das Leben leichter. Wer freundlich ist, rückt sich ins rechte Licht, gewiss. Aber er ist eben freundlich und tut sich selbst etwas Gutes.

Bella Figura ist kein Täuschungsmanöver oder Zeichen übertriebener Selbstliebe. Bella Figura bedeutet, sich das Recht zuzugestehen, sich das Leben so schön wie möglich zu machen. Die Süße des Lebens zu genießen, weil man erkennt, dass man es wert ist. Doch funktioniert es nicht auf Kosten, sondern nur mit Respekt vor anderen. Und es funktioniert nicht ohne jede Anstrengung. Manchmal ist es leider mühsam, sich das Leben zu versüßen. Das Wunderbare aber ist: Wenn alle mitmachen, wird es doch wieder leicht. Denn das Gute kommt zurück. Ich glaube, dass im Prinzip der Bella Figura eine Kraft wirkt, die uns allen das Leben angenehmer und leichter machen kann. Und die Welt zu einem besseren Ort. Wer sich selbst achtet, wird das Gute suchen, das Schöne zeigen und dafür keine Mühe scheuen. Klingt fast wie in einem Traum? Stimmt. Aber Italien, wo die Bella Figura erfunden wurde, ist ja auch ein traumhaftes Land.


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