Die Schizophrenie der Verletzlichkeit

Zarte Last

Neulich hatte ich ein Telefonat mit zwei mir bis dato unbekannten Beraterkollegen. Mit unterschiedlichen Aufträgen waren wir allen beim selben Kunden unterwegs und ein Erfahrungs- und Informationsaustausch schien sinnvoll. Während der eine Kollege einer Heldenstory gleich von den zahlreichen Erfolgen seines Einsatzes berichtete, räumte der andere freimütig sein Scheitern an verschiedenen Punkten ein. Das machte mir den Kollegen überaus sympathisch. Und was meinen Gesprächsbeitrag betraf, musste ich nicht viel sagen, sondern mehr hören und fragen, denn ich war noch ganz frisch bei diesem Kunden. Ich war nicht böse darum. Denn so sehr ich die Offenheit des Kollegen auch bewunderte – ich selbst hätte mich nur äußerst ungern so wenig perfekt, und angreifbar, so verletzlich gezeigt.
Beim Rückblick auf die Situation wurde mir bewusst, dass ich in puncto Verletzlichkeit wohl mit zweierlei Maß unterwegs gewesen war: Was ich bei anderen schätzte, erschien mir für mich selbst bedrohlich. Und so komme ich nicht umhin zu fragen: Bin ich, was Verletzlichkeit betrifft, ein wenig schizophren?

Ohne Anspruch auf statistische Verlässlichkeit habe ich mich in meinem Bekanntenkreis dazu umgehört. Tröstlich für mich - und vielleicht ja auch für Sie – ist, dass es offenbar nicht nur mir so geht. Weit verbreitet scheint das Phänomen, dass Menschen die Preisgabe von Verletzlichkeit bei anderen durchaus gern für mutig halten, bei sich selber aber als Zeichen von Schwäche auslegen. Wir möchten die Verletzlichkeit anderer spüren, selber aber nicht verletzlich sein. Bei anderen finden wir sie attraktiv und anziehend, während wir selbst uns unserer eigenen Verletzlichkeit schämen und sie als abstoßend empfinden. In unserem Bestreben, stark und unverletzlich zu sein, wird uns Zartheit zur Last.
Betrachtet man die wissenschaftliche Definition, wird nachvollziehbarer, warum wir geneigt sind, hier mit zweierlei Maß zu messen. Die amerikanische Wissenschaftlerin und Verletzlichkeitsforscherin Brené Brown beschreibt Verletzlichkeit als die Bereitschaft zu Unsicherheit, Risiko und emotionaler Exposition. Alles Dinge, die man gerne anderen überlässt. Bestenfalls lernt man daraus und kommt selbst in vergleichbaren Situationen fehlerlos und unverletzt davon.
Gleichzeitig macht das Offenlegen von Gefühlen Menschen nahbar und sympathisch. Es berührt uns, wenn andere bereit sind, ein Risiko einzugehen, z.B. indem sie emotional in Vorleistung zu gehen. Wir können andocken, wenn andere ihre Unzulänglichkeiten eingestehen, denn das Gefühl nicht gut genug zu sein ist den meisten von uns gut vertraut. Nicht zuletzt gibt der selbstbewusst zarte Umgang mit Schwächen Hoffnung. Denn Verletzlichkeit zu zeigen bedeutet, herzuzeigen dass man nicht perfekt, wohl aber gut genug ist.
Auf diese Weise wird Verletzlichkeit zum Baustein für Vertrauen. Das Geschenk dieser Vertraulichkeit nehmen wir gerne an, das Risiko, selbst im Regen stehen zu bleiben, uns der Lächerlichkeit Preis zu geben und abgelehnt zu werden meiden wir lieber.

Ich stelle es mir großartig vor, sich auch selber solches Vertrauen und solche Hoffnung schenken zu können. Daher glaube ich, dass es sich lohnt, den Weg aus der Einbahnstraße der Wertschätzung zu suchen.
Laut Brené Brown ist es hilfreich, dafür mit einigen Mythen aufzuräumen:
Verletzlichkeit ist nichts Schlechtes. Sie ist weder gut noch schlecht. Sie ist ein Teil des Lebens und als solches ein Stückchen Wahrheit, wenn auch oft eine unbequeme. Verletzlichkeit ist niemandem fremd, auch wenn manche das behaupten. Unser Leben ist zerbrechlich, denn wir alle sind sterblich, äußerlich wie innerlich. Und schließlich bedeutet das Zulassen von Verletzlichkeit keineswegs, allzu Privates nach außen zu kehren und permanenten Seelenstriptease zu betreiben. Verletzlichkeit hat mit Gegenseitigkeit zu tun und damit, Vertrauen schenken zu können – es geht darum, Gefühle Menschen anzuvertrauen, die sich das Recht erworben haben, sie anzuhören - z.B., weil sie ein echtes Interesse an uns haben- und die die Last unserer Zartheit tragen können.
Schon die Überwindung dieser Vorstellungen kostet Kraft und Mut.
Ein vergleichsweise einfacher allererster Schritt um mit der eigenen Verletzlichkeit Frieden zu schließen könnte aber sein, gütig damit umzugehen, dass wir an anderen bewundern, was wir an uns selbst verachten.


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