Wie die Pasta für die Soße

Vom Wert der Freundlichkeit

Als ich in den vergangenen Monaten auf der Suche nach einer neuen Überschrift für diese Rubrik war, gingen mir viele Schlagworte durch den Kopf. Ziemlich früh in meinen Überlegungen war auch die Freundlichkeit dabei, die ich aber schnell wieder verwarf. Irgendwie erschien mir das Thema kraftlos, fad, nicht interessant und ergiebig genug.

Dann fuhr ich nach Italien und hatte so etwas wie eine Offenbarung: Ich traf Menschen, die ich nicht anders als im besten Sinne freundlich bezeichnen konnte. Sie begegneten mir zuvorkommend, liebenswürdig und gütig und es fühlte sich an, als wären sie schon ganz lange meine Freunde. Widerstand war zwecklos und ich wurde – nicht nur bildlich gesprochen – an die Brust der italienischen Mamma gedrückt. Diese ungekünstelte Freundlichkeit war so wohltuend, dass ich mich fragte, welches Problem ich eigentlich die ganze Zeit mit dem Thema gehabt hatte. Könnte es sein, dass ich da etwas völlig unterschätzt hatte?

Tatsächlich ist der Eindruck weit verbreitet, dass Freundlichkeit ein Hauch von Langeweile anhängt.

Wer sich zum Ziel setzt, ein freundlicherer Mensch zu werden, könnte schnell als Einfaltspinsel gelten. Nett zu sein klingt nach etwas, das allenfalls dann erstrebenswert ist, wenn nichts Aufregenderes mehr möglich ist. Über eine neue Bekanntschaft lediglich zu sagen zu haben, dass er oder sie sehr freundlich ist, ist leider kein wirkliches Kompliment. Denn nett, das wissen wir alle, ist die kleine Schwester von Sch****.

Mit der Freundlichkeit ist es seltsam. Sie gilt zwar als eine Tugend, im Vergleich zu Haltungen wie Nächstenliebe, Großzügigkeit oder Mut aber eher als eine kleine. Der französische Philosoph Emmanuel Jaffelin beschreibt sie dementsprechend als „Tugend der Subsidiarität“ – das, worauf man zurückgreift, wenn nichts anderes funktioniert.

Ein anderer Philosoph, der Schweizer Alain de Botton, macht bei ihr die Bürde gleich mehrerer kultureller Strömungen aus. Neben der Romantik – als bewundernswert gilt den Romantikern, wer leidenschaftlich, intensiv und gerne auch radikal lebt; nett zu sein ist dagegen schlicht langweilig – sieht er auch den Kapitalismus - Erfolg hat nur, wer die Konkurrenz zuweilen rücksichtslos aus dem Rennen schlägt, nette Menschen kommen nicht sehr weit – in der Verantwortung für das lauwarme Image der Freundlichkeit.

Natürlich wollen wir alle nett sein. Aber nicht unbedingt auf Kosten von Status und Erfolg. Leider scheint Freundlichkeit schlecht ins Konzept einer Lebenseinstellung zu passen, in der genug nie genug ist, in der man alles inklusive der eigenen Person stets weiterentwickeln und optimieren muss. Und glaubt man reißerischen Bestsellertiteln („Schluss mit Nettsein“) aus dem Selbsthilferegal, gehört zu ausreichend Selbstbewusstsein zumindest hin und wieder auch der Verzicht auf Freundlichkeit. Kein Wunder also, dass sie in einer Wettbewerbs- und Leistungsgesellschaft wie der unseren wenig zählt.

Freundlichkeit ist diskret und leise. Sie drängt sich nicht ins Rampenlicht und verspricht kein Abenteuer. Sie ist sanfter Aufruf, die Regeln des Anstands zu beherzigen und das Miteinander möglichst angenehm zu gestalten.

Freundlichkeit öffnet Türen, denn sie öffnet Herzen.

Alain de Botton geht soweit zu behaupten, dass viele der Haltungen und Eigenschaften, die wir für unvereinbar mit Freundlichkeit halten, im Grunde von ihr abhängig sind. Abenteuer und prickelndes Vergnügen sind nichts ohne die Momente von Muße und Erholung. Wirtschaftlicher Erfolg hängt letzten Endes wesentlich an der Art und Weise der Zusammenarbeit im Unternehmen und den sozialen Bindungen. Und wer Erfolg für wertvoller als Freundlichkeit hält blendet aus, dass wir die meiste Zeit unseres Lebens ziemlich verletzlich und schwach sind und auf die freundliche Zuwendung anderer angewiesen.

Die kleine Tugend Freundlichkeit ist nicht weniger wert, nur weil sie sich im Hintergrund hält. Sie ist – ein Vergleich, der mir kommt, wenn ich an meine italienische Offenbarung denke – wie die Pasta für die Soße: Vielleicht vergessen wir schnell ihren Eigengeschmack. Aber ohne Pasta schmeckt die beste Soße nicht und macht uns schon gar nicht satt. Pasta ist der nötige Soßenträger.

In diesem Sinne erscheint mir Freundlichkeit als eine Art Trägermaterial für Menschlichkeit. Sie schenkt Respekt, Gehör und Aufmerksamkeit und macht Kontakt, Beziehung und Bindung möglich.

Vielleicht ist sie nicht die Würze des Lebens. Ganz gewiss ist sie oft von der Würze überdeckt. Aber sie nährt uns. Und zum guten Leben gehört sie wie die Pasta zum guten Essen.


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