Ich habe einen Freund, der hat sieben Leben. Nein, es handelt sich nicht um einen Kater. Es geht um einen Menschen aus Fleisch und Blut. Ich betone das, weil ich mich hin und wieder frage, woher er eigentlich die Kraft für all sein Tun nimmt. Er ist Unternehmer in gleich zwei Unternehmen, Vater von drei Kindern, Ehemann und großer Bruder, sozial engagiert und ausgestattet mit einem Freundes- und Bekanntenkreis der so groß ist, dass man damit mühelos ein Zirkuszelt füllen könnte. Alle diese Rollen lebt er mit Inbrunst. Zwischen den Welten wechselt er scheinbar mit Leichtigkeit. Wo er gerade ist, ist er voll und ganz präsent. Da, wo andere längst Ausstiegphantasien hegen, hat er noch lange nicht genug. Er will nicht raus, sondern weiter rein ins Leben, noch mehr Leben erleben. Sein Antrieb ist seine Sehnsucht, wie er sagt, und die ist riesengroß. So sympathisch ihn das macht, so beängstigend finde ich es manchmal auch. Und komme nicht umhin zu fragen, ob man zu viel sehnen kann. Und wenn ja: Was passiert, wenn einer zu viel sehnt?
Um mit einer Antwort zu beginnen, zu der ich die Frage nicht gestellt habe: Ich bin überzeugt, dass, wer zu wenig sehnt, so gut wie tot ist. Teil unseres Menschseins ist immer auch das Gefühl von Unvollständigkeit und damit verbunden das Streben nach Ganzheit und Heilung. Ein Leben ohne jede Sehnsucht kann in meiner Welt nur einem Dahinsiechen gleichen. In Selbstgenügsamkeit und ohne Antrieb, in Sattheit und Trägheit und ohne Anschlussfähigkeit, getrennt vom Leben. Weil man nichts zu sagen und schon gar nichts mehr zu fragen hat.
Im Gegensatz dazu wäre überschießende Sehnsucht ein geradezu übermächtiger Antrieb. Da sie naturgemäß auf etwas Unerreichbares gerichtet ist, ist sie häufig mit Wehmut verknüpft. Das Risiko von zu viel Sehnsucht bestünde folglich darin, sich in Wehmut und Melancholie aufzureiben.
Sehnsuchtsforscher am Berliner Max Planck-Institut scheinen das zu bestätigen: Am Beispiel von Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch haben sie herausgefunden, dass stark sehnsüchtige Menschen oft am Rande der Depression stehen. Sie fühlen sich schlechter als solche Personen, denen es gelingt, ihre Sehnsucht kognitiv zu kontrollieren – wobei „kognitive Kontrolle“ nichts anderes bedeutet, als Maß zu halten bei der Sehnsucht.
Der sehnsüchtige Antrieb kann aber nicht nur mit Wehmut, sondern auch mit Aggressivität verbunden sein. Das Risiko ist dann, dass nicht nur der sehnende Mensch Schaden nimmt, sondern auch sein Umfeld. Beziehungen, Möglichkeiten und Gefühle können beschädigt oder zerstört werden. Im schlimmsten Fall, ohne dass die Sehnenden es bemerken. Ein wenig wie in den Comic-Geschichten über den unglaublichen Hulk, zu dem der geniale Wissenschaftlicher Dr. Banner mutiert, wenn er zornig wird. Als muskelbepacktes grünes Monster haut Banner alles kurz und klein, was seinen kindlichen guten Absichten im Wege steht. Und reibt sich verwundert die Augen, wenn er aus dem Rausch erwacht. Wie Hulk, der trotz dicker Muskeln und übermenschlicher Kräfte mitunter geradezu rührend verletzlich wirkt, sind übermäßig Sehnende sowohl waidwund als auch unempfindlich gegenüber Scherzen jenseits ihrer Sehnsucht. Sie sind empfindsam und emotional und zugleich nahezu blind gegenüber den Bedürfnissen anderer. Die Mischung aus Empfindsamkeit und Stärke ist faszinierend und gefährlich. In der Ekstase der überschießenden Energie gehen Menschen ihren Sehnsuchtsweg und verbrennen sich selbst und alle, die sich nicht zu schützen wissen. Sehnsucht kann zerstörerisch wirken, wo sie nicht kanalisiert wird.
Wer zu viel sehnt, verglüht. Wer zu wenig sehnt, erkaltet.
Kognitive Kontrolle sei wichtig, um die süße Komponente des Sehnsuchts-Schmerzes zur eigenen Zufriedenheit auskosten zu können, sagen die Berliner Sehnsuchtsforscher.
Welche Strategie im Einzelnen dazu beitragen kann, Sehnsucht im besten Sinne und vor allem als Antrieb zu nutzen, soll in weiteren Studien erforscht werden. Ich könnte bis dahin meinen sehnsüchtigen Freund befragen. Ich muss nur erst die Superheldin in mir finden, die mich vor meinem Freund, diesem Hulk, beschützt.