„Die einstmals schöne Helmschmiedin“ ist der Name einer Statue des französischen Bildhauers Auguste Rodin. Sie ist so berührend, dass mir jedes Mal, wenn ich sie sehe, die Tränen kommen. Es handelt sich um die Darstellung einer alten Frau, die nackt auf einem Stein sitzt. Vergänglichkeit und Verfall ihres Körpers sind genau zu sehen. Die Frau sitzt mit gebeugtem Kopf und gesenktem Blick. Ihr gewölbter Bauch ist voller Dellen und Falten, die leeren Brüste hängen traurig an ihr herunter. Ihre Schultern sind knochig, die große Hand am sehnigen Arm hält sich am Stein fest und im zu Boden zeigenden Gesicht erkennt man die schlaff gewordene Partie rund um Lippen und Kinn. Das Bildnis ist das Gegenteil klassischer Schönheit. Es ist nicht edel, stark und makellos, sondern erschreckend verletzlich - und dabei unendlich anziehend. So sehr, dass ich den Blick davon nicht abwenden mag und auch nicht abwenden kann, weil ich ehrfürchtig werde, so würdevoll erscheint es mir bei all seiner Verletzlichkeit. Und ich komme nicht umhin zu fragen, wie Würde und Schwachheit eigentlich zusammenpassen. Birgt vielleicht gerade unsere Verletzlichkeit eine besondere Würde?
Würde ist ein abstrakter, schwer zu fassender Begriff. Wenn man mal querliest - und es gibt viel zu lesen zu diesem Thema – scheint Würde zwar nichts mit äußerer Schönheit, Gesundheit und Kraft zu tun zu haben, wohl aber mit innerer Größe und Stärke. Eine erhabene Gesinnung oder Vernunft werden als Gründe für die besondere Würde des Menschen angeführt oder, in der christlichen Anthropologie, die Gottebenbildlichkeit. Gerade letztere empfinde ich aber als Aufforderung, einen Zusammenhang zwischen Würde und Verletzlichkeit herzustellen. Wenn ich als Christin glaube, dass Gott Mensch geworden und als solcher gelitten hat und gestorben ist, muss für mich zwingend daraus folgen, dass ich den Verlust meiner Würde nicht fürchten muss. Auch dann nicht, wenn ich mich als überaus verletzlich erweise. Doch erlange ich Würde auch aufgrund meiner Schwäche? Ist Verletzlichkeit der Wert, der besondere Achtung gebietet?
Ich meine, das ist der Fall. Wenn Würde etwas sein soll, das uns immer zugesprochen wird, kann sie kaum von besonderen Leistungen abhängen. Vor aller Leistung - und ganz konsequent auch trotz aller Schuld - da sein zu dürfen halte ich für menschenwürdig.
Dazu kommt, dass Verletzlichkeit allen Menschen gemein ist. Verletzlichkeit ins Zentrum der Würde zu stellen bedeutet, in allen Menschen das Verbindende zu sehen, das, was uns einander gleich macht. Diesen vielleicht schmerzlichen Aspekt der Gleichheit in den Blick zu nehmen ist für mich ein Ausdruck von Erhabenheit, der weit entfernt liegt von jedem Gedanken an Über- und Unterordnung.
Würde begründet so verstanden viel weniger Rechte als Pflichten. Sagen wir: Sie begründet eine Verantwortung und zwar mindestens die, einem anderen Menschen seine Existenz nicht abzusprechen, sondern ihm einen Platz einzuräumen. Darf ein anderer Mensch Raum greifen? Darf er Raum greifen mit seiner Art zu leben, seinen Gedanken, seinen Gefühlen, seinen Verletzungen?
Würde im Zusammenhang mit Schwäche und Verletzlichkeit zu betrachten macht deutlich, dass sie keine Sache von Großen und Mächtigen ist, von den sogenannten „Würdenträgern“ ist, sondern von uns allen. Sie ist auch keine Sache von bedeutungsschwangeren, „großen“ Momenten, sondern von alltäglichen Begebenheiten.
Ich achte Dich, weil Du verletzlich bist wie ich. Du hast einen Wert, gerade weil Du verwundbar bist.
Ich finde, das ist das Minimum, das wir uns zugestehen müssen, z.B. dann, wenn wir in Konflikten um Lösungen ringen und unsere Würde wahren wollen. Es wäre wunderbar, wenn wir uns darauf verlassen könnten, im Ernstfall diesen Satz zu hören oder über unsere Lippen zu bringen. Es würde sehr erleichtern, die eigene Verwundbarkeit zu offenbaren – im Vertrauen darauf, dass der andere meine Verletzlichkeit nicht gegen mich verwenden wird.
Der „einstmals schönen Helmschmiedin“ – der 82jährigen Mutter eines Modells von Rodin – ist das gelungen. Ihr Vertrauen wurde nicht enttäuscht. Rodin hat sie nicht bloßgestellt. Im Verfall und der Verletzlichkeit des gealterten Körpers hat er eine Schönheit gesehen, die Charakter verleiht - und sich damit der Darstellung in einer Statue als würdig erweist.