Mein Freund hat eine Exfrau. Sie ist mein schlimmster Alptraum. Nicht wegen all der Streitereien um Kinderwochenenden und Unterhaltsforderungen und all der Aktionen, die Sie sich bei einem Rosenkrieg so vorstellen können. Sondern weil sie mir mit brachialer Deutlichkeit vor Augen führt, was ich an mir selbst nicht leiden kann. Obwohl mit einem Lebensentwurf, der quer zu meinem liegt und mir als Totalprovokation erscheint, obwohl mir persönlich völlig unbekannt, erscheint sie mir erschreckend vertraut. Furchtbar unlocker blicke ich auf das, was sie tut, sagt, unterlässt.Was mir doch völlig gleichgültig sein könnte, regt mich schrecklich auf. Einerseits gehe ich ihr aus dem Weg und suche nach einer Ecke, in die ich sie verbannen kann, andererseits verfolge ich angeekelt fasziniert ihre Social-Media-Aktivitäten. Sie ist mein Schatten. In ihr begegnen mir Seiten von mir, die ich gut vergraben habe. Die ich mir verbiete, weil sie schlecht zu meinem mühsam errichteten Selbstbild passen. Ich ahne, dass die böse Ex ihren Reiz verlöre, wenn ich anfinge, Licht in meine Schatten zu bringen. Wenn ich mehr bei mir, mehr ich selbst wäre. Aber das ist echt schwierig, stelle ich fest. Und ich komme nicht umhin zu fragen: Wie mutig muss man eigentlich sein, sich seinen Schatten zu stellen? Welchen Mut erfordert es, sich auf sich selbst einzulassen?
In der Psychologie gilt die Auseinandersetzung mit abgelehnten Gefühlen als eine der größten Herausforderungen auf dem Weg zur Selbstakzeptanz und Individuation. Seelisches Wachstum kann nur stattfinden, wo Gefühle, angenehme wie unangenehme, inklusive der damit verbundenen Wünsche und Bedürfnisse angenommen werden. Was sich leicht dahin sagt, verlangt nach einem tiefen Blick in die Seele. Dafür braucht es den Mut, sich Enttäuschungen und Verletzungen (erneut) auszusetzen, den Mut, Illusionen platzen zu lassen und sich einer oftmals beschämenden Realität des Selbst zu stellen. Ich räume ein, dass das Gefühl von Scham eines ist, das ich gern vermeide. Und dass es einfacher ist, einen anderen z.B. für seine Selbstinszenierung zu verachten, als sich für die eigene zu schämen –und sie bleiben zu lassen.
Die Beschäftigung mit dem eigenen Schatten führt zur Begegnung mit inneren wie äußeren Feinden und es braucht den Mut, genau diesen Feinden liebend, mindestens aber barmherzig zu begegnen. Den Mut, immer wieder einen Anlauf zur Versöhnung zu unternehmen. Den Mut, den eigenen Stolz hinunterzuschlucken und sich dabei lächerlich zu machen. Helfen kann es, sich vor Augen zu führen, welche Ängste die Gesichter der Feinde zu Fratzen werden lassen. Nicht, um sich über die Schwäche der Feinde zu erheben, sondern um mitzufühlen mit ihrer Not, mit der eigenen Not.
Solcherart „Selbstdemontage“ macht verwundbar. Die tiefsten Wunden schlagen dabei meist die eigenen Glaubenssätze, die - von der Außenwelt übernommen – doch gerade dazu beitragen sollen, Erwartungen anderer Genüge zu tun und uns die Zuneigung anderer zu sichern. Sich auf sich selbst einzulassen erfordert daher immer auch den Mut, Glaubenssätze ins Wanken zu bringen, sich von den Erwartungen anderer zu distanzieren und in letzter Konsequenz Liebe aufs Spiel zu setzen. Wer sich auf sich selbst einlassen, selbst werden will, braucht den Mut, zumindest einen kurzen Augenblick lang, ganz alleine dazustehen –im paradoxen Wissen, dass es andere braucht, um man selbst werden zu können.
In der Theorie klingt alles so klar. Blöd nur, dass das Ringen mit dem Schatten eine ziemliche Strapaze und mein Selbstbild ein echt starker Gegner ist.
Gut aber, dass ich mit der ungeliebten Exfrau einen Schatten aus Fleisch und Blut habe. Vielleicht sollte ich es damit versuchen, sie mal kennenzulernen. Auch wenn es hochgradig unwahrscheinlich ist, dass Du das hier liest:
Liebe Gabi, ich glaube, wir sollten reden.