In meiner Kindheit gehörte zu unserer Familie eine alleinstehende ältere Dame. Ella war eine Frau der Prinzipien und Gewohnheiten. Die Kruste vom Schweinebraten gehörte immer ihr – obwohl ihr Gebiss das Kauen davon gar nicht zuließ. Beim Tischtennis mit uns Kindern kam eher ihr großer Busen zum Einsatz als die Kelle. Trotzdem ließ sie sich vom Spiel nicht abbringen, denn das gehörte dazu. Und der Satz „Da jibt it janischt dran zu tippen“, den sie mit ausgestrecktem Zeigefinger unterstrich, ließ keine Widerrede zu, auch nicht ihre eigene. Sie stand um sechs Uhr auf, aß um punkt zwölf zu Mittag (übrigens auch, wenn sie zu uns kam) und schaute um 20 Uhr die Tagesschau. Sie hatte eine feste Zeit für’s Stricken, für die täglichen Erledigungen, für den Mittagsschlaf, für’s Wäschewaschen usw. Unzählige Routinen bestimmten ihr Leben.
Was mir wie ein erdrückendes Korsett vorkommt, scheint Ella gut getan zu haben. Denn zwischen all diesen Fixpunkten bewegte sie sich scheinbar leichtfüßig durchs Leben. Schlecht gelaunt habe ich sie nie erlebt und auch nie gehört, dass sie sich je über irgendetwas beschwert hätte. Und so ich komme nicht umhin zu fragen, ob Routinen und Gewohnheiten unserem Leben sogar Leichtigkeit verleihen können.
Psychologisch betrachtet scheint die Sache recht einfach zu sein:
Gewohnheiten und Routinen habe eine Entlastungsfunktion. Sie helfen nicht nur, die Flut an Reizen zu bewältigen und der Komplexität Herr zu werden, sondern auch Energie zu sparen, weil der Denkaufwand für Entscheidungen, Kontrolle und Motivation reduziert wird. Als Automatismen nehmen Gewohnheiten uns 30 bis 50% unserer Entscheidungen ab und lassen uns so Zeit und Raum für wichtigere Fragen – sie machen das Leben leichter. Dazu kommt, dass Regelmäßigkeit Verlässlichkeit schafft und damit die nötige Sicherheit gibt, Ungewohntem oder Unvorhergesehenem mit Leichtigkeit zu begegnen. Diese Entlastungs- oder Erleichterungsfunktion haben übrigens auch schlechte Gewohnheiten – obwohl diese ja nicht selten als das genaue Gegenteil von Leichtigkeit, nämlich als „Laster“, bezeichnet werden. Doch in der Gewohnheitsschleife unseres Hirns geht es um die mit der Gewohnheit verknüpfte Belohnung. Wir greifen zur Zigarette, um die Nervosität nicht so stark zu spüren. Wir schalten den Fernseher im Hotelzimmer ein, um uns weniger allein zu fühlen, wir futtern die Chipstüte leer, damit wir die Langeweile nicht so drängend wahrnehmen. Wir erleben es als Erleichterung, etwas Unangenehmes von uns fern zu halten. Leider ist diese Art der Erleichterung meist nur von kurzer Dauer, aber dennoch: Wenn wir aufmerksam hinschauen oder in uns hinein hören, können wir vielleicht, erkennen, wo uns das Herz schwer ist und es sich lohnen würde, langfristig Entlastung zu schaffen.
Doch was ist mit Ellas rigidem Zeitkorsett? Warum werden ihr die engen Grenzen ihrer Routinen und die damit verbundene Selbstverpflichtung nicht zur Last? Ich glaube, dass ihr - auf ihre Art - etwas gelungen ist, was der Philosoph Félix Ravaisson in einem schönen Bild beschreibt. Für ihn ist die Gewohnheit eine Brücke zwischen Notwendigkeit und Freiheit. Diese Brücke zu bauen halte ich für eine zentrale Aufgabe des Menschseins und ich bin überzeugt, dass sie in die Leichtigkeit führt.
Es gilt die Balance zu finden zwischen dem, was zu tun ist, weil das Leben uns in die Situation stellt (und es uns deshalb oft schwer macht) und dem, was möglich ist, wofür Freiräume vorhanden sind und was uns fliegen lässt. Es geht um das gute Verhältnis zwischen müssen und können. Wenn es gelingt, eine Verbindung herzustellen zwischen dem Müssen und dem Können, zwischen dem am Boden bleiben und dem Abheben, können die Dinge hin und her bewegt werden. Es kann ausgehandelt werden, was wohin gehört, was wie zu sortieren ist. Es kann eine Balance entstehen – und damit Leichtigkeit. Gewohnheiten sind dann die Helfer beim Stabilisieren. Sie entlasten davon, immer wieder neu in den Aushandlungsprozess einzusteigen fangen ein vorübergehendes Ungleichgewicht auf.
Gewohnheiten und Routinen, die auf dem ersten Blick nach Zwang und Last aussehen, können also durchaus Leichtigkeit verleihen.
Ganz direkt und unmittelbar, weil sie beim Denken und Entscheiden entlasten. Sehr kurzfristig, wo sie - als „Laster“ schnell und sicher zu Belohnungen und angenehmen Gefühlen führen. Etwas langwieriger, wenn man sie als Hinweis versteht auf den Teil im Leben, an dem man es sich leicht machen will und Entlastung anstrebt. Und noch grundlegender, wenn man sie nutzt, um für ein Gleichgewicht im Leben zu sorgen, das schwerelos macht.