Neulich im Zug traf ich einen ehemaligen Kollegen. Ich war mittelmäßig begeistert, denn diesen Kollegen hatte ich immer schon nur mittelmäßig sympathisch gefunden. Ich gestehe, dass mein mangelndes Wohlwollen auch mit Neid auf das scheinbar so perfekte Leben dieses Überfliegers zu tun hatte. Vor allem aber hatte ich seine selbstdarstellerischen Heldengeschichten in schlechter Erinnerung und wie er in unseren kollegialen Beratungen über die Sorgen und Probleme seiner Coachees gelästert hatte. So empathiefrei und arrogant, dass ich mich wunderte, warum die Kunden ihm die Bude einrannten.
Dieses Zusammentreffen aber war anders. Geradezu demütig berichtete er davon, wie er in den letzten zwei Jahren mehrmals am Burn-out vorbeigeschlittert war. Er erzählte von gleich mehreren Lebenskrisen, von emotionaler Erschöpfung, Verzweiflung und dem Gefühl entsetzlicher Mutlosigkeit. Dann musste er aussteigen. Und lies mich mit der Frage zurück, wie Menschen in existenziellen Krisen den Weg aus der Mutlosigkeit finden. Wie gelingt es, den Mut nicht vollends zu verlieren?
Der österreichische Neurologe und Psychiater Viktor Frank, Begründer der Logotherapie, hat sich intensiv mit der Bewältigung von Lebenskrisen beschäftigt. Seinen Erkenntnissen zufolge spielt das Erkennen von Sinn im Leben eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, Lebensmut auch unter schwersten Umständen zu behalten oder wieder zu finden.
Dazu gehört zunächst, ein Stück Zukunft vor Augen zu haben. Menschen, denen es gelingt, sich auf ein Ziel in der Zukunft auszurichten, können ihre psychische Gesundheit besser bewahren. Konkrete Ziele sind geronnene Hoffnung. Hoffnung macht widerstandsfähig und ist eng verwandt mit Mut. Als Bild einer besseren Zukunft wird sie gestärkt durch persönliche Werte. Dabei geht es weniger um moralische Bewertungen als um Dinge, die im Leben das höchste Gut, den größten Wert ausmachen. Genau die sind es, die Sinn vermitteln und zum Weitergehen ermutigen.
Wer Schwierigkeiten hat, persönliche Werte als Sinn-Stifter auszumachen, dem kann helfen, die Krise als Aufgabe des Lebens zu verstehen. Die Krise hat einen Sinn – sie will etwas sagen und gibt die Möglichkeit, etwas zu lernen und dadurch zu wachsen.
Sich Zukunft vor Augen führen, Sinn erkennen wollen – das geht jedoch nur, wenn es gelingt, die Realität anzunehmen, wie sie ist. Hilfreich bei der Bewältigung von Mutlosigkeit ist daher die Fähigkeit, das Erschreckende zu akzeptieren und anzunehmen. Auf Allmachtsphantasien beruhende Steuerungsversuche aufzugeben und sich achtsam dem Moment zu verschreiben. Kontrolle abzugeben. Hilfe anzunehmen. Oft genug ist es genau das, was Menschen in der Krise am schwersten fällt: Sich einzugestehen, dass sie an Grenzen ihres Seins vorgestoßen sind, von denen aus sie auf andere geworfen werden. Dass es allein nicht mehr weitergeht. So erfordert es am Ende des Mutes den allergrößten Mut: Nicht nur der eigenen Verletzlichkeit und Schwäche ins Gesicht zu blicken, sondern sie anderen zu zeigen und hinzuhalten. Sich anderen ausliefern, um sich nicht sich selbst in der eigenen Mutlosigkeit auszuliefern.
Die Unterstützung von anderen Menschen anzunehmen erfordert den größten Mut beim Weg durch die Mutlosigkeit, ist aber zweifellos besonders heilsam. Es braucht die Helfer als Sehhilfe. Ihre andere Sicht der Dinge öffnet die Fenster der Seele und trägt dazu bei, Zukunft, Werte und Sinn für sich zu erkennen und den eingeschlossenen Lebensmut zu befreien.
Mutlosigkeit scheint etwas zu sein, das man nicht bezwingen, allenfalls durchschreiten kann. Paradoxerweise erfordert es jede Menge Mut, der Mutlosigkeit zu begegnen: Den Mut, an eine Zukunft zu glauben. Mut, zu eigenen Werten zu stehen. Mut der Wirklichkeit ins Gesicht zu sehen und den Mut, sich anderen auszuliefern. Am Ende des Mutes gilt es, den Rest zu geben.
Was meinen ehemaligen Kollegen betrifft, so habe ich keine Ahnung, was aus ihm geworden ist. Aber ich bin zuversichtlich, dass es ihm gut geht. Er hat großen Mut bewiesen, mir seine Geschichte zu erzählen. Dafür bewundere ich ihn.