Kürzlich erzählte mir eine Freundin, dass sich ihre Nachbarin mit einem Second-Hand-Shop selbständig gemacht hatte. Das wäre keine Nachricht wert gewesen, hätte meine Freundin sich nicht selbst vor einigen Jahren mit der Idee getragen, einen solchen Laden zu eröffnen. Aus Angst, den Spaß an ihrem Hobby zu verlieren, hatte sie sich diesen Schritt aber versagt. Nun hatte die andere den Gedanken nicht nur wahr gemacht, sondern auch einige Marketingideen meiner Freundin geklaut und machte keinen Hehl daraus, mit ihrem Laden glücklich und erfolgreich zu sein. Während meine Freundin grummelte, kaum getröstet von der Gewissheit, dass das Geschäft wegen Corona nur schleppend lief, stolperte ich über eine andere Information: Frisch geschieden finanzierte die Dame ihren Geschäftsaufbau mit den Unterhaltszahlungen ihres Ex-Mannes – eine Sache, die wiederum ich mir nach meiner Trennung versagt hatte. Irgendwie waren wir beide angepiekst. Der Ideenklau war frech, die Finanzierung ausgebufft, die Selbstdarstellung als erfolgreiche Geschäftsfrau ein Hohn. Hatte diese Frau keine Selbstachtung? Doch während wir aufzählten, wie verachtenswert uns die Aktionen der Nachbarin erschienen und wie sehr wir uns dafür schämen würden kamen wir nicht umhin zu fragen: Ist Selbstachtung eigentlich überhaupt etwas, das man von außen beurteilen kann?
Was aus der Außen-Perspektive zunächst einmal zu beobachten ist, sind Symptome, die sich mit entsprechender Erfahrung als Zeichen einer eher hohen oder niedrigen Selbstachtung deuten lassen. So gelten z.B. die positive Rede von sich selbst, ein gelassener Umgang mit Kritik oder eine schnelle Entscheidungsfähigkeit als Ausdruck einer gut ausgeprägten Selbstachtung. Bei eher zögerlicher Rede von der eigenen Person, Angst vorm Scheitern oder dem unsicheren Umgang mit Komplimenten wird hingegen meist von einer eher niedrigen Selbstachtung ausgegangen. Doch so hilfreich diese Unterscheidungen sein können, so trügerisch sind sie auch. Hinter einem überheblichen Auftreten steckt oft Unsicherheit und entsprechend geringe Selbstachtung. Und wer sich bescheiden zeigt und nicht mit Erfolgen prahlt, kann unabhängig von Bewunderung und daher besonders reich an Selbstachtung sein. Selbst wenn also allein die Symptome ausschlaggebend wären, um den Grad der Selbstachtung eines Menschen zu beurteilen – einfach wäre die Bewertung nicht.
Erschwerend kommt jedoch hinzu, dass in der philosophischen Diskussion mindestens zwei Arten von Selbstachtung unterschieden werden, die in unterschiedlichem Maß der „objektiven“ Bewertung von außen zugänglich sind. Da ist zum einen die sog. personelle Selbstachtung. Sie gründet darin, dass man Person ist. Als solcher kommt einem unabhängig von Leistungen ein Wert zu, der dem aller anderen Personen gleich ist. Davon unterschieden wird die Selbstachtung, die darin gründet, was für eine Person man ist. Teil dieser „subjektiven Selbstachtung“ ist z.B. der Blick darauf, wie es gelingt, den eigenen Erwartungen an die Verwirklichung von Werten und Standards gerecht zu werden. Auch wenn man sich von Sichtweisen anderer selten völlig frei machen kann - die Werte und Standards, denen es zu entsprechend gilt, sind genauso persönlich wie die Beurteilung, was es für ihre Erfüllung braucht.
Während sich für die personelle Selbstachtung noch einige allgemeine Maßstäbe finden lassen – z.B. ob jemand seine Rechte als Person wahrnimmt oder autonom und selbstverantwortet handelt - ist das bei der „subjektiven Selbstachtung“ nicht der Fall. Ob und wie ausgeprägt sie gerechtfertigt ist, ist stets abhängig vom subjektiven Maßstab. Von dem der sich achtenden Person und von dem der bewertenden Person! So kommt es, dass Einschätzungen hier weit auseinanderfallen können. Einem anderen die Selbstachtung abzusprechen ist also genau genommen nur möglich, indem man ihm seine grundlegende Würde abspricht. Alles andere sind Bewertungen, die vom Standpunkt des eigenen Wertgerüsts her vorgenommen werden und somit nicht objektivierbar sind.
Irgendwann stellten meine Freundin und ich erschrocken fest, dass es so aussehen könnte, als seien wir diejenigen, denen es an Selbstachtung mangelte. Indem wir die Nachbarin abwerteten, ging es uns ein bisschen besser. Das entsprach leider gar nicht dem Anspruch an uns selbst. Wir gaben uns ein Versprechen: Es wird nicht mehr gelästert. Zumindest nicht über diese Nachbarin. Bis jetzt ist es uns gelungen. Und das ist doch etwas, das für unsere Selbstachtung spricht, oder?