Letzte Woche telefonierte ich mit einer Kollegin, die sehr niedergeschlagen war. Sie war als Beraterin an ihre Grenzen gestoßen. In unserer Arbeit ist das nicht ungewöhnlich und auch nicht schlimm. Immer wieder gibt es Situationen, in denen man Neues lernen oder sich ein Herz fassen muss, um Kunden bestmöglich in ihren Anliegen zu unterstützen. Doch die Kollegin war diesmal mit ihrem Latein wirklich am Ende. Und so hatte sie ein großes Beratungsmandat kurzerhand niedergelegt. Es war für sie eine Frage ihres Berufsethos.
In der gemeinsamen Reflexion wurde klar, dass es noch viel tiefer ging. Sie war an ein System geraten, das sich zwar „New Work“ auf die Fahnen geschrieben hatte, dessen Kultur die Selbstachtung seiner Mitarbeitenden aber systematisch beschädigte. Zwar hätte sie weiter wurschteln können, wäre im Kern aber immer unwirksam geblieben. Nicht zuletzt, weil sie begann, Muster des Systems zu übernehmen, erschien der Ausstieg als einzig vernünftiger Schritt. Besonders niederschmetternd an unserer Reflexion aber war die Erkenntnis, dass solche destruktiven Muster gar nicht so selten sind.
Tatsächlich nutzen viele Organisationen Führungsmethoden, die vielleicht kurzfristig Erfolg bringen, langfristig aber dazu führen, dass sie die Selbstachtung ihrer Leute unterminieren.
Allem voran steht dabei ein mit der Angst „es nicht zu schaffen“ verbundener Leistungsdruck. Die Sorge, als Underperformer bloßgestellt und sozial abgehängt zu werden, treibt Menschen über ihre Belastungsgrenzen. Das ist zugegeben ein gesellschaftliches Thema, wird aber davon befeuert, dass Unternehmen z.B. leistungsabhängige Vergütungen an unrealistische Ziele koppeln. Oder davon, dass aus übersteigerter Rücksichtnahme auf individuelle Belange Einzelne dauerhaft gar nicht gefordert werden, während andere den Ausfall ganz selbstverständlich kompensieren müssen.
Selbstachtung gerät in Gefahr, wo Führungskräfte ihre Mitarbeiter vergleichen. „Mitarbeiter des Monats“ findet man Gott sei Dank kaum noch, wohl aber Vorzeigeteams aus Pilotprojekten, auf die gern verwiesen wird und aus deren Erfolgen die anderen lernen sollen.
Problematisch sind auch unklare Aufträge und ungeklärte Rahmenbedingungen, mit denen Führungskräfte Doppelbotschaften senden und ihre Mitarbeitenden in die Falle laufen lassen, weil die es nur falsch machen können. Und nicht zuletzt bekommt die Selbstachtung Dämpfer, wo Menschen sich schämen müssen, weil sie bloßgestellt wurden. Das ist nicht erst dann der Fall, wenn vertrauliche Informationen nach außen dringen: Es beginnt, wo jemand selbstkritisch sein Verhalten reflektiert und Fehler eingesteht und andere unsensibel draufhauen und die Person abstempeln.
Mitarbeitenden bleibt dann oft nur die Kündigung oder die innere Emigration, wenn sie, wie meine Kollegin, zum Schutz ihrer Selbstachtung das Spiel nicht mitspielen wollen. Das hat Folgen für die Unternehmen.
Denn nur, wenn es den Menschen gut geht, geht es auch den Unternehmen gut. Was wie ein gefühliger Spruch der New Work-Szene daherkommt, ist weit mehr als das. Es ist fordernder Auftrag an eine neue Welt der Arbeit. Denn auch Selbstachtung ist weit mehr als ein schönes Lebensgefühl. Es ist die Grundlage für unser Leben – für Beziehungsfähigkeit und, wenn man so will, unsere „Wirkfähigkeit“. Lebendigen „neuen“ Unternehmen gelingt es eine Kultur zu entwickeln, in der die Organisation sich ernst und wichtig nimmt – z.B. indem sie ihre Anliegen und Ziele nicht zur Disposition stellt – und sich zugleich überhaupt nicht wichtig nimmt, weil sie versteht, dass sie nichts ist ohne die Menschen, die zu ihr gehören. Sie entwickeln eine Kultur, in der Mitarbeitende Menschen sein dürfen. Ausschlaggebend dafür sind weniger der Kicker im lässigen Co-Working Space, die Duz-Kultur oder die Meditation am Morgen. Viel wichtiger ist der Respekt vor der eingegangenen gegenseitigen Verpflichtung im Licht der fremden und der eigenen Grenzen. Die Selbstverantwortung für den persönlichen Beitrag zum Gelingen der Arbeitsbeziehung. Die klare Ausrichtung und das eindeutige Warum auf Seiten des Unternehmens. Das ehrliche Hinterfragen der eigenen Motivation und Eingestehen von Interessen auf Seiten der Mitarbeitenden. Beide Seiten sind gefordert bei der Entwicklung einer menschenfreundlichen Arbeitswelt. Keine Garantie, aber wesentliche Grundlage dafür ist eine gesunde Selbstachtung. Denn nur, wer mit sich selbst im Reinen ist, kann sich klar mitteilen. Kann auf Vergleiche verzichten, stark sein, ohne andere schwach zu machen und sich einbringen, ohne sich zu veräußern.