Nervende Hilferufe

Von der Tragik einer zu geringen Selbstachtung

Auf der Suche nach einer Inspiration für’s Abendessen landete ich neulich auf einem Food-Blog. Anders als die Rezepte hielt mich überraschenderweise die Über-mich-Seite vom Weiterscrollen ab: Neben den üblichen Infos zu dem, was einen zum Bloggen bringt, teilte die Bloggerin von sich mit: „Ich mag keine Menschen, die sich selbst nicht leiden können“. Ich stockte. Weniger, weil ich keinen Bezug zum Thema des Blogs herstellen konnte (so etwas wie „Ich mag keine Menschen, die nicht gerne essen“ hätte ich noch nachvollziehen können). Eher, weil ich nicht wusste wie ich finden sollte, dass man sich über das Nicht-Mögen eines bestimmten Typus Mensch definiert. Vor allem aber, weil ich getriggert war. Denn es gibt durchaus einige Seiten an mir, die ich nicht besonders gut leiden kann. Während meine Gedanken auf Reisen gingen, geriet meine Selbstachtung ein wenig ins Schlingern. Sollte ich mich dafür verurteilen, dass ich Dinge an mir nicht leiden mag? Ist das Nachdenken über eine solche Meinungsäußerung bereits ein Indiz für eine geringe Selbstachtung? Und ist das dann wirklich eine Zumutung für andere?

Eines ist für mich klar: Wir alle entdecken immer wieder Anteile in uns, die wir - zurecht oder zu Unrecht - nicht besonders mögen. Das kann durchaus so weit gehen, dass man sich insgesamt kritisch sieht und nicht besonders leiden mag. Sich dafür zu kritisieren, trägt leider nicht dazu bei, zu Selbstliebe und Selbstakzeptanz zurückzufinden. Stattdessen verstehe ich es als wichtigen Schritt in Richtung Selbstachtung, sich derartige Hänger zuzugestehen und barmherzig damit umzugehen. Das ist Herausforderung genug. Verurteilt werden sollte dafür niemand. Weder von sich selbst noch von anderen.

Weniger eindeutig lässt sich für mich die Frage beantworten, ob wir im Zustand der geringen Selbstachtung eine Zumutung für andere sind.

Um ganz ehrlich zu sein: Ich hege durchaus Sympathie für die etwas weniger starke Selbstachtung. Mit ihr verbinde ich Gemeinsinn, Bescheidenheit und eine vielleicht etwas aus der Zeit gefallene Demut.

Menschen mit weniger hoher Selbstachtung sind empfänglicher für Impulse von außen. Weil sie akzeptiert werden wollen, sind sie stärker auf Empfang und Anschluss gepolt. Sie haben ein gutes Gespür für die Erwartungen von anderen, gehen stärker als andere auf ihre Gesprächspartner ein und sind empfindsam für Zwischentöne. Sie lassen Vorsicht walten und sind umsichtiger als manch anderer. Sie nehmen sich selbst nicht so wichtig und sind eher zu Zugeständnissen bereit. Alles in allem erscheint mir das recht sozialverträglich.

Doch vielleicht wirken fehlende Risikobereitschaft und Vorsicht auf manch einen langweilig. Mag sein, dass frustriert ist, wer freimütig Komplimente macht, auf die weniger Selbstbewusste nur verlegen reagieren. Gewiss ist es mühsam, wenn Menschen bis zur Selbstzerfleischung an Kritik leiden. Unterm Strich finde ich das trotzdem aushaltbarer als die Übertreibung in die andere Richtung. Die Psychologen François Lelord und Christophe André äußern die Vermutung, dass das „richtige“ Maß an Selbstachtung abhängig von den Wertvorstellungen des Umfelds ist. Abhängig von der Kultur, in der wir leben, wird eine eher zu geringe (oder zu hohe) Selbstachtung andere nerven oder eben nicht. Dem widerspreche ich nicht. Und denke trotzdem, dass es mit den wenig Selbstbewussten noch ein tiefer liegendes Problem gibt.

Wer sich selbst nicht achtet läuft Gefahr, um Akzeptanz und Liebe von außen zu buhlen. Durch Anbiedern, schräge Selbstdarstellung oder subtiles fishing for compliments wird dann versucht, Löcher im Herzen zu stopfen, die von außen nicht zu stopfen sind. Dieses Ringen um Zuwendung mag nervtötend sein – vor allem aber hat es Potenzial, entwürdigend zu sein. Das ist tragisch. Die Not der sich selbst gering Achtenden und ihr Versuch, sich zu retten, machen sie zur potenziellen Belastung für andere. Und zwar ganz besonders für die, die selbst eine Leere zu füllen haben. Die darauf angewiesen sind, im Gegenüber Anerkennung zu finden und sich auf der Suche nach Bestätigung buchstäblich selbst erschöpfen. Umso glücklicher darf sich schätzen, wer bei seiner Suche nach Heilung auf jemanden trifft, der nicht Verachtung, sondern Mitgefühl übrighat und die Selbstentwürdigung mit Großmut aushält. Und das kann wirklich nur, wer über ausreichend gesunde Selbstachtung verfügt.


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