Liebe ist alles

Von Liebe als Lebenshunger

Neulich habe ich zuhause mal wieder aufgeräumt, und zwar in Ecken, in denen ich nicht ganz so oft unterwegs bin. In der Regel stoße ich dabei auf Dinge, die mich in Erinnerungen schwelgen lassen und dadurch vom Putzen abhalten. So auch diesmal. Noch oben auf der Leiter öffnete ich den Deckel einer Schachtel mit Sammlerstücken aus meiner Kindheit. Zu jedem Stück war sofort die Geschichte wieder da. Vom kleinen Porzellanhäschen mit den abgebrochenen Ohren, das meine Oma aus dem Urlaub mitgebracht hatte, von der rund geschliffenen Muschel, die ich an der Nordsee gefunden hatte, von der Haarspange mit der lila Blüte, mit der meine Mutter mir den Pony zurückgesteckt hat, als ich mich weigerte, ihn mir schneiden zu lassen. Nur bei einem Gegenstand wusste ich beim besten Willen nicht mehr, woher er kam: Der Zeitungsauschnitt eines „Liebe ist“-Comics. Diese Comics eines herzigen Pärchens waren während meiner Grundschulzeit überall zu finden. „Liebe ist…das Einzige, was man wirklich zum Leben braucht“ stand unter dem Bild. Hatte ich das ausgeschnitten? Oder hatte mir das jemand zugesteckt? Wenn ja, wer? Ich kam nicht drauf. Stattdessen sinnierte ich über den Spruch. Ist Liebe wirklich alles, was wir zum Leben brauchen? Sollte es tatsächlich so einfach sein?

Wenn ich ganz ehrlich bin, stand Liebe lange Zeit nicht auf Platz eins meiner Wunschliste für’s Leben. Da ging es eher um Gesundheit und Glück, Erfolg und Gelassenheit oder ganz schnöde Dinge wie das gute Abschneiden bei Prüfungen oder eine bezahlbare Wohnung, die ja maßgeblich mit den vorgenannten Punkten zu tun haben. Und, Hand auf’s Herz, wenn Sie gefragt werden, was Sie brauchen – denken Sie zuerst an Liebe? Wenn Sie anderen Menschen gute Wünsche aussprechen, ist dann Liebe ganz ausdrücklich dabei?

So einleuchtend ich das Sprüchlein aus dem Comic finde, so wenig wundert mich, dass wir Liebe als essenzielle Qualität unseres Lebens oft gar nicht auf dem Schirm haben. Denn Liebe ist vielschichtig, vielfältig, vielgestaltig. Sie ist Gefühl und Entscheidung, Tugend und Leidenschaft. Sie zeigt sich im ganz Kleinen genauso wie mit großem Donnerschlag. Sie ist machtvoll und kann Berge versetzen und zugleich ist sie vollkommen ohnmächtig.  Sie lässt uns über uns hinauswachsen, macht uns stark und zugleich unendlich verletzlich. Sie führt uns an unser Selbst heran und sorgt dafür, dass wir uns wandeln. Liebe lässt sich nur schwer greifen. Nicht umsonst haben sich unzählige Künstlerinnen und Künstler an ihr versucht, letztlich aber immer nur einzelne Facetten von Liebe beschreiben können. Es ist schwierig, Liebe im Ganzen zu erfassen. Philosophische Ansätze liefern uns Fragmente. Aber haben all die Konzepte und Deutungen eine zentrale Gemeinsamkeit, die den Gedanken, dass Liebe alles ist, erklärt?

Ich denke schon. Aus meiner Sicht ist der allen Ansätzen gemeinsame Kern - vom antiken eros, agape und philia über Kants spröde Idee der praktischen Liebe als Ausdruck eines Handelns aus Pflicht bis hin zu soziologischen Liebestheorien - das bedingungslose Ja zum Leben. Liebe will Leben. Sie ist unersättlich, will Evolution, sie will weiter, will mehr Liebe und noch mehr Leben. 

Das könnte auch gemeint sein, wenn Meister Eckhart von Liebe als dem bedingungslosen Öffnen spricht. Wenn wir uns öffnen für das Leben, für das, was ist, uns von dem durchdringen lassen, kann Leben gedeihen, Neues sprießen, die Welt sich weiterdrehen. Im ganz Kleinen und im ganz Großen. Die Essenz der Liebe ist das Leben und umgekehrt. Sie ist Grund allen Seins und Impuls des Werdens. Ken Wilber, amerikanischer Autor und Begründer der integralen Theorie, spricht vom „Klebstoff des Kosmos“.

Liebe umfasst alles. Sie integriert die unterschiedlichen Facetten unserer Existenz, ist voll gelebtes Leben, in all seinen Aspekten. Liebe ist Fülle. So gesehen „brauchen“ wir Liebe nicht einmal, denn es gibt keinen Mangel. Sie ist schon da. Wir müssen sie nur zulassen, uns von ihr durchdringen lassen. Wenn wir dem Leben Ja sagen, lebenshungrig sind, sind wir in der Liebe. Dieser Lebenshunger ist es, den wir zum Leben brauchen. Mit ihm , wird sich alles finden. Ohne ihn ist alles nichts. Wenn wir auf Liebe in diesem Sinne vertrauen, finden wir erfülltes Leben. 

Ich weiß nicht, wie lange ich auf der Leiter gesessen und nachgedacht habe. Plötzlich stand mein Mann vor mir. 

„Hast Du Hunger? Ich hab gekocht.“ Ich musste lachen. Ja! Und was für einen Hunger ich hatte!


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