Beyond #selflove

Warum ich lieber an Selbstachtung als an Selbstliebe arbeiten möchte

Wenn ich durch Social Media-Kanäle klicke oder in Lifestyle-Magazinen blättere begegnet mir seit geraumer Zeit immer wieder ein Begriff: Selbstliebe. Anfangs hat mich das sehr angesprochen. Als ehemalige Essgestörte, die ich bin, ist Selbstliebe für mich auch Jahre nach der akuten Erkrankung ein Thema. Dennoch bin ich dieser Beiträge inzwischen überdrüssig.

Dabei stören mich gar nicht so sehr die teils abstrusen Tipps für mehr #selflove, die von A wie Abtauchen im Schaumbad bis Z wie Zen-Meditation reichen. Auch habe ich verstanden, dass Selbstliebe etwas anderes ist als Egoismus oder Narzissmus und dass ich sie deshalb nicht per se verurteilen muss. All die guten und mit Herzblut geschriebenen Ratschläge sind wertvoll – und trotzdem scheint mir, können sie die Wunden einer gekränkten Seele und noch weniger die einer gekränkten Gesellschaft kaum heilen. Irgendwie ist es nie genug, also scheint etwas zu fehlen. Neben all der Nabelschau fehlt mir persönlich der Blick auf das System, in dem wir als Menschen stehen. Und ich frage mich, ob es nicht helfen könnte, statt über Selbstliebe mehr über Selbstachtung nachzudenken. Allerdings: Sind Selbstachtung und Selbstliebe wirklich zwei verschiedene Dinge? Und wenn ja: Was hat die Selbstachtung, das die Selbstliebe nicht hat?

Selbstachtung ist eine Frage der Beziehung, die ich zu mir selber pflege. Zweifellos hat das viel damit zu tun, wie gut ich mich leiden kann und wie liebevoll ich mit mir umgehe. Die Psychologen und Erfolgsautoren François Lelord und Christophe André betrachten sie allerdings als Konzept aus drei Komponenten. Selbstliebe ist neben Selbstvertrauen und der Sicht auf die eigene Person nur eine davon. Gerade dieser letzte Punkt, die Sicht auf sich selbst, erscheint mir paradoxerweise das zu sein, was eine Tür öffnen und den Blick auf das System weiten kann.

Während es bei der Selbstliebe im Sinne eines „es ist was es ist“ darum geht, sich selbst zu akzeptieren, beschreibt die Sicht auf sich selbst die innere Überzeugung, als Person über bestimmte Stärken und Schwächen zu verfügen. Es geht um eine Bewertung, nämlich der, wie sehr wir unseren Erwartungen an uns selbst entsprechen. Eine Bewertung bedarf eines Maßstabs, an dem ich mich messen kann. Im Idealfall ist das ein Wertegerüst verbunden mit der Bereitschaft, moralisch zu handeln. Unabhängig vom jeweiligen Wertekanon ist das moralische Minimum dabei immer die Ehrlichkeit mit sich selbst.

Selbstliebe kann sich damit begnügen, „so bin ich eben“ zu konstatieren. Der Blick auf die eigene Person verlangt ein Weiterdenken im Sinne von „so bin ich und das ist (nicht) so, wie ich es mir vorstelle, wie es mir richtig, gut oder wertvoll erscheint“. Der Aspekt der Sicht auf die eigene Person als Teil von Selbstachtung beinhaltet die Frage, ob ich mir selbst noch in die Augen schauen kann. Das kann schwerfallen, sogar wenn man sich selbst sehr liebt.

Dazu kommt, dass wir mit den Erwartungen an uns selbst in den wenigsten Fällen allein dastehen. Während es bei Selbstliebe darum geht, sich selbst gut zu sein, wird die Sicht auf die eigene Person unweigerlich vom fremden Blick auf uns beeinflusst. Unsere Erwartungen sind verknüpft mit der Achtung durch andere und mit der Wertschätzung, die wir anderen entgegenbringen. In der Wahrung der Selbstachtung steckt ein erster Schritt zur Achtung anderer und laut dem Philosophen Martin Seel damit auch ein Schritt zur „Bewahrung von Strukturen der Rücksicht, die niemand für ich allein in Anspruch nehmen kann“. Selbstachtung ist also nicht nur Ausdruck des Respekts vor sich selbst, sondern letztlich auch des Respekts vor anderen. Das ist weit mehr, als sich selbst zu mögen, wie man ist.

Selbstachtung setzt sich und den sich selbst achtenden Menschen ins Verhältnis zu anderen. Sie erlaubt, eigene und fremde Grenzen anzuerkennen und bringt dazu, immer wieder zu fragen: Will ich so sein? Für mich und für andere? Will ich so in die Welt wirken? Wie will ich in der Welt wirken? Und traue ich mir zu, dafür angemessene Wege zu finden?

Mir diese Fragen zu stellen und dabei liebevoll anzuerkennen, dass ich aus mir selbst heraus nicht alles kann und trotzdem genug sein darf, weil es andere gibt, die, laut Seel, mit ihrem „spannungsreichen Selbstverständnis Schritt zu halten versuchen“, ist für mich ein tröstlicher Akt voller Selbstachtung. Er schmälert nicht den Wert der Selbstliebe. Aber er ermutigt, weiter zu denken. Und vielleicht die eine oder andere Wunde in unserem gesellschaftlichen Miteinander zu schließen.


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