Wenn man in den Sozialen Medien unterwegs ist, stößt man regelmäßig auf neue Erklärungsversuche für mehr oder weniger problematische Lebenssituationen. Unschöne Verhaltensmuster werden plötzlich überall beobachtet, entsprechende Störungen diagnostiziert – auffällig oft übrigens bei Ex-Partnern oder Vorgesetzten - und als Erklärungsmodell für schwierige Lebenslagen herangezogen. Eine Zeitlang fiel der Burnout in diese Kategorie. Fehlende Selbstliebe und missachtete innere Kinder, gefolgt von Narzissmus waren ebenfalls lange angesagt. Den Vogel schießt für mich seit einiger Zeit die Kategorisierung als toxisch ab. Alles, was irgendwie mühsam ist, wird als toxisch deklariert. Toxische Familien, toxische Chefs, sogar toxische Positivität gibt es und – natürlich! - toxische Beziehungen. Mir drängt sich die Frage auf, ob es auch so etwas wie toxische Toxizität geben könnte, aber das ist mir dann doch zu kompliziert. Stattdessen frage ich also: Was genau hat es mit toxischen Beziehungen, toxischer Liebe auf sich? Und: Hilft uns das Label „toxisch“ beim Umgang mit diesem Phänomen wirklich weiter?
Als toxisch werden gemeinhin Beziehungen beschrieben, die Energie rauben und unglücklich machen und zwar so sehr, dass die betroffenen Personen über der vergiftenden Beziehungsdynamik krank werden Die Anzeichen für eine solche Liebe sind vielfältig und nicht immer einfach von einem sog. normalen Beziehungsgeschehen abzugrenzen. Dennoch gibt es einige typische Hinweise. Zum Beispiel das sog. „Love Bombing“, bei dem zu Beginn der Beziehung ein Partner den anderen mit extremer Zuwendung und Liebesschwüren überschüttet, sich nach einiger Zeit aber dem Kontakt entzieht. Ebenso gehören übertriebene Eifersucht, zwanghafte Kontrolle sowie Abwertung - von ganz subtil bis ganz massiv – dazu. Doch nichts von alledem hat für mich mit Liebe zu tun. Tiefes Leid ist nicht gleichbedeutend mit tiefer Liebe. Die genannten Verhaltensweisen sind destruktiv und kränkend. Sie gründen in der Angst, allein zurückzubleiben oder nicht genug zu sein. Liebe ist das genaue Gegenteil: Sie will das Leben, sie kann heil machen, sie sagt ja und ängstigt sich nicht. Dementsprechend unsinnig erscheint es mir, von toxischer Liebe zu sprechen. Und auch die Rede von der toxischen Beziehung halte ich für wenig hilfreich. Nicht nur, weil der Übergang von „völlig normal“ zu „toxisch“ fließend ist, sondern vor allem, weil das Label „giftig“ kaum dabei hilft, aus einer kranken eine gesunde Beziehung zu machen.
Auch wenn kranke, dysfunktionale Beziehungen – noch - nicht in Liebe gründen, sind sie möglicherweise Ausdruck einer Sehnsucht nach Liebe. Und lassen sich mit Liebe heilen.
Dazu gehört zuallererst, die Dinge beim Namen zu nennen. Auszusprechen, dass man in einer von Angst geprägten oder wie auch immer Kräfte zehrenden Beziehung steckt, ist ein erster wichtiger Schritt. Es ist, was es ist, sagt die Liebe. Das Label „toxisch“ ist dabei wenig hilfreich, weil viel zu allgemein.
Mit Liebe zu heilen bedeutet weiter, andere nicht zu pathologisieren und ihnen eine Schuld zuzuweisen, sondern stattdessen Verantwortung für sich selbst und die eigenen Gefühle zu übernehmen.
Die meisten Beschreibungen toxischer Beziehungen drehen sich aber um toxische Partner. Ich schließe nicht aus, dass es wirklich kranke Menschen gibt, die manipulativ sind und bewusst demütigen wollen. In den allermeisten Beziehungen ist aber eine Dynamik am Werk, die zu wechselseitigen Verletzungen führt. Dazu kommt, dass emotionale Abhängigkeiten ein wesentlicher Faktor in kranken Beziehungen sind. So furchtbar und leidbringend das ist – aus unterschiedlichsten, nicht zu verurteilenden Gründen begeben wir uns in den meisten Fällen selbst in eine Abhängigkeit. Selbst wenn die Flucht aus der Beziehung gelingt, löst das Problem sich nicht auf, bloß weil man jetzt den anderen für krank erklärt. Was es braucht, ist der liebevolle und ehrliche Blick auf sich selbst. Die Frage nach der unerfüllten Sehnsucht und dem Hunger der Seele, den man versucht hat, mit einer Beziehung zu stillen. Das Label toxisch hilft hierbei nicht weiter, weil es viel zu stark geprägt von Erklärungen im Außen und gefärbt von der Unterstellung Mutwilligkeit.
Die toxische Beziehung ist kein neues Phänomen. Es ist eine andere Bezeichnung für unglückliche Beziehungen. Und eine seltsame Überschrift für die Erfahrung, dass Angst Liebe im Weg steht. Doch wer gibt das schon gerne zu? Ohne das Gegengift der Liebe ist das ganz schön schwierig.