Im Sommer ist wieder Wacken-Zeit. Zehntausende von Menschen machen sich dann auf den Weg in das schleswig-holsteinische 1800-Seelen Dorf, um auf den dortigen Äckern vier Tage lang wahlweise unter sengender Sonne im Staub oder in Regen und Schlamm ein Festival der Metal- und Rockmusik zu zelebrieren. Die Bier trinken, obwohl ihnen das sonst überhaupt nicht schmeckt. Die sich von Sängern in Zombie- Kostümen begeistern lassen, obwohl sie Splatter-Movies hassen. Die zu laut kreischender Musik tanzen, obwohl sie sonst eher Jazz hören. Das Festival ist Anziehungspunkt für Menschen aus aller Welt und aller gesellschaftlichen Gruppen – sogar Seniorenheime machen hierhin Ausflüge, Heino hat hier schon gespielt. Menschen tun hier Dinge, die für sie in ihrem Alltag nicht in Frage kommen. Man fragt sich: Wie kommt das? Ganz sicher kommen die Fans nicht mehr nur wegen der Musik. Auch die entspannte und friedliche Stimmung, die oft genannt wird, halte ich nicht für ausschlaggebend. Ich glaube vielmehr, dass Wacken für viele ein Sehnsuchtsort ist, an den die Seele flüchten kann. Was angesichts der Tatsache, dass Wacken schmutzig, laut und mit allerlei Unbequemlichkeiten verbunden ist, ein wenig überraschen mag.
So komme ich nicht umhin zu fragen: Erleiden wir einen Realitätsverlust, wenn wir versuchen, unsere Sehnsucht zu leben? Ist Sehnsucht gar eine Flucht aus der Wirklichkeit? Wäre Sehnsucht so gesehen nicht sogar etwas Gefährliches?
Natürlich hat Sehnsucht immer mit etwas zu tun, das fern unserer Lebenswirklichkeit liegt. Sehnsucht bezieht sich ja gerade auf die Unvollkommenheiten in unserem Leben, auf das, was fehlt. Wenn wir also versuchen, Sehnsüchte zu erfüllen, werden wir zwangsläufig Grenzen verschieben. Wir werden Wege beschreiten, die wir normalerweise nicht gehen und Orte aufsuchen, die uns fremd sind. Wir werden Dinge in Kauf nehmen, die wenig alltäglich und insofern ver-rückt sind, als sie neben der Realität liegen, die wir uns errichtet haben. Errichtet aus Bildern, die wir von einem vermeintlich richtigen Leben oder einem phantastischen Selbst im Sinn haben. Die Flucht an einen Sehnsuchtsort wie Wacken katapultiert uns aus dieser Wirklichkeit. Aber trotzdem meine ich, erleben wir damit gerade keinen Realitätsverlust, sondern vielmehr einen Realitätsgewinn. Wir gewinnen ein Stück neuer, ganz persönlicher Wirklichkeit. Wenn wir unseren Sehnsüchten nachgehen und nachgeben, kommen wir unserem Wesenskern näher, davon bin ich überzeugt.
So gesehen ist Sehnsucht nicht die Flucht aus der Wirklichkeit, sondern allenfalls aus einerWirklichkeit. Und mehr noch als Flucht vor etwas ist es für mich Zuflucht hin zu etwas Anderem, aber dennoch tief Vertrautem. Es ist Zuflucht zu uns selbst.
Ganz risikolos ist das sicher nicht.
„Reality bites“, sagt man. Der Sehnsucht ins Auge zu schauen bedeutet, die aktuelle Wirklichkeit „beißen“ zu lassen. Wer seine Sehnsucht benennt, reflektiert, dass etwas fehlt. Und das tut meistens weh.
Dazu kommt, dass das vertraute Umfeld oft genug den Kopf schüttelt, wenn man sich in eine andere Wirklichkeit bewegt. Das wissen nicht nur Wacken-Fans. Die Realität (die neue!) beißt hier wohl die anderen. Das Wandeln zwischen den Welten kann mühsam sein. Die Gefahr besteht für mich aber vor allem darin, die eine unvollkommene Wirklichkeit gegen die andere auszutauschen. Eben weil man dort eine Seite leben kann, die hier gerade fehlt. Was unterm Strich dazu führt, dass die Unvollständigkeit erhalten bleibt.
Das Geheimnis liegt wohl darin, die eine Wirklichkeit mit der anderen zu verknüpfen – aber an diesem Versuch kann man grandios scheitern. Nicht zuletzt, weil unsere Sehnsüchte nicht immer perfekt zusammen passen.
Trotzdem, meine ich, sollte man seine Sehsüchte und die Versuche, ihnen nachzugehen, nicht aufgeben. Vermutlich kann man es auch gar nicht. Sehnsucht wird sich als fester Teil von uns Menschen immer wieder Bahn brechen und Kanäle suchen, ein Stück Befriedigung zu erlangen.
Umso besser, dass es so etwas wie Wacken gibt. Nicht nur weil an diesem Beispiel deutlich wird, dass Sehnsucht als Suche nach Vervollkommnung nichts mit Perfektion und Harmonie zu tun haben muss (und trotzdem Spaß machen kann). Sondern vor allem, weil es ein Zufluchtsort ist für die sehnsüchtige Seele. Weil man an Orte wie diesen Dinge legen kann, die man (noch) nicht vollständig mit der einen, dominanten Wirklichkeit verbinden kann. Wo sie gut aufgehoben sind. Und an den man immer wieder zurückkehren kann. Vielleicht sogar mal mit Freunden, die eigentlich den Kopf darüber schütteln.