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Warum Sie Konflikte suchen sollten

Der Nutzen von Konflikten

Eigentlich geht man ihnen lieber aus dem Weg, den kleinen und großen Auseinandersetzungen im Leben. Sie sind anstrengend, beängstigend, verstörend, schmerzhaft. Einschlägige Tipps aus Ratgebern, Konflikte sachlich und konstruktiv anzugehen, nehmen sich angesichts solcher Erfahrungen aus als graue Theorie. Die Rede vom „Konflikt als Chance“ klingt dann bisweilen zynisch. Konflikte sind Zumutungen. Warum es sich trotzdem lohnen könnte, sie auszuhalten...

Seit einigen Jahren coache ich Führungskräfte. Egal in welchem Zusammenhang das Coaching steht - immer wieder lande ich in diesen Gesprächen bei Konflikten, die die Coachees in ihren unterschiedlichen Beziehungen erleben. Je nach Persönlichkeit leidet der eine mehr darunter als der andere. Noch nie aber habe ich jemanden getroffen, der einen Konflikt als angenehm erlebt und nicht gehofft hätte, die Situation möge sich so schnell wie möglich auflösen.

Entsprechend zwiespältig waren denn auch die Reaktionen auf meine Versuche, Konflikte zu reframen, sie also in einen anderen, neuartigen Zusammenhang zu stellen, um ihnen etwas Positives abzugewinnen. Inzwischen habe ich diese Art der Intervention fast aufgegeben. Stattdessen spreche ich meinen Coachees mein Mitgefühl aus. Konflikte sind definitiv unschön. Sie sind wirklich Grund zum Jammern und Klagen. Und trotzdem hilft alles nichts: Man muss ihnen ins Auge blicken. Denn Konflikte gehören zum Leben dazu.

Konflikte sind Entwicklungskrisen

Der Psychoanalytiker Erik H. Erikson spricht in seinem Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung den Beziehungen des Kindes zu seiner personalen Umwelt eine wesentliche Rolle für die psychische Entwicklung zu.

Demzufolge durchläuft ein Mensch im Laufe seiner Entwicklung verschiedene Krisen. Die erfolgreiche Bewältigung einer Krise und die dabei gesammelten Erfahrungen sind hilfreich bei der Bewältigung der nächsten Entwicklungsstufe bis hin zur vollständigen Reife im reifen Erwachsenenalter.

Auf diese Weise könnte man auch Konflikte betrachten: Als Krisen, mit denen das Individuum sich auseinandersetzen muss, wenn es in seiner Entwicklung vorankommen möchte. Ein erfolgreich bewältigter Konflikt liefert Erfahrungen, die bei der Arbeit an neuen Beziehungen und an der eigenen Persönlichkeit behilflich sind. Welche Erfahrungen können das sein?

Konflikte sind nicht die Ausnahme, sie sind die Regel

Soziale Konflikte - also solche zwischen Menschen (im Gegensatz zu inneren Konflikten) - entstehen immer dann, wenn Bedürfnisse, Interessen, Ziele von verschiedenen Personen nicht miteinander in Einklang zu bringen sind. Angesichts der Annahme, dass unsere Wahrnehmung subjektiv ist und ein jeder seine eigene Wirklichkeit konstruiert, ist die Wahrscheinlichkeit, in Konfliktsituationen zu enden also relativ hoch.

Konfliktfreiheit kann es eigentlich nur dort geben, wo alles bis ins letzte Detail organisiert, abgestimmt und geregelt ist. Das ist mühsam, denn bereits die Aushandlung der Regeln und Absprachen birgt Konfliktpotenzial.  Und selbst wenn die konfliktfreie Abstimmung gelingt, so führt sie zu Routinen, die spätestens dann zum Problem werden, wenn sie auf die Routinen eines anderen Systems treffen.

Das Konfliktrisiko wächst, wo Situationen unübersichtlich und wechselhaft sind, wo schnell gehandelt und entschieden werden muss. Wo Leben gelebt wird. Dynamik, Flexibilität und Vernetzung sind konfliktanfällig.

Wer die totale Konfliktfreiheit und Harmonie sucht, riskiert die Unbeweglichkeit.

Konflikte hingegen bleiben, bei aller Vorhersehbarkeit von Eskalationsstufen und Konfliktmustern, unberechenbar. So gesehen sind sie verstörend. Sie verweisen aber eben auch auf die Dynamik des Lebens und gehen unauflöslich mit ihr einher.

Konflikte sind Anlass, sich eigenen Zielen, Bedürfnissen und Ängsten zu stellen

Meinungsverschiedenheiten und unterschiedliche Sichtweisen sind solange kein Problem, wie sie nebeneinander bestehen dürfen. Sobald jedoch Versuche unternommen werden, dem anderen die eigene Sichtweise aufzudrängen oder sobald einer das Gefühl hat, durch die unterschiedliche Wahrnehmung beim Erreichen der eigenen Ziele behindert zu sein, entsteht ein Konflikt. Diese subjektiv empfundene Beeinträchtigung stellt sich dann besonders leicht ein, wenn die Beteiligten sich gegenseitig nicht akzeptieren oder entwertend miteinander sprechen. Und was als entwertend erlebt wird, ist wiederum stark abhängig vom subjektiven Empfinden.

Um das Gefühl der Gleichwertigkeit wieder herzustellen, unternehmen Menschen Kompensationsversuche, die häufig genug über das Ziel hinausschießen. So startet eine Spirale der Eskalation, Konflikte spitzen sich zu, drehen sich nicht mehr um die Sache, sondern um die Frage der Macht.

Der häufigste Auslöser überschießender Reaktionen ist Angst. Angst, als dumm dazustehen, nicht respektiert zu werden, als schwach zu gelten. Dabei sind Ängste immer die Rückseite von Bedürfnissen. Hinter jeder Befürchtung steht der Wunsch nach einem bestimmten Zustand, nach der Verwirklichung persönlicher Werte. Wer sich seinen Ängsten stellt, kann herausfinden, wonach er sich wirklich sehnt. Das ist die Mühe wert, denn während Ängste fesseln und verzagt machen, können Sehnsüchte beflügeln.

Hand in Hand mit Ängsten aller Art gehen enttäuschte Erwartungen. Unverständnis und Enttäuschung über das Verhalten des Gegenübers führen zu verärgerten Reaktionen, die dann kompensiert werden müssen. Das Problem ist, dass Erwartungen häufig gar nicht ausgesprochen werden. Sie sind so selbstverständlich, dass kein Wort darüber verloren wird. Das führt zu kniffligen Situationen. Nicht nur das Gegenüber hat keine Chance, Erwartungen zu erfüllen, sondern oft ist sich auch der „Absender“ von Erwartungen gar nicht im Klaren darüber, Ansprüche gestellt zu haben, die nun enttäuscht werden.

Dementsprechend kann es helfen, sich in Konflikten zu fragen, worum man eigentlich gerade genau streitet und welchen Kampf man mit sich selbst austrägt. Welche persönliche Erwartung gerade enttäuscht wurde und welches Risiko (sprich: Realisierung einer Angst) besteht, würde man in der Auseinandersetzung einlenken. Es ist nicht unwahrscheinlich, hier an Tabus zu stoßen und sich Ziele und Bedürfnisse eingestehen zu müssen, die nur wenig zum Bild von der eigenen Person passen.

Konflikte sind also beängstigend, weil sie auf persönliche Abgründe verweisen. Genau damit aber führen sie einen näher zu sich selbst.

Konflikte führen die eigene Selbstwirksamkeit vor Augen

Konfliktparteien meinen für gewöhnlich, lediglich auf das unangemessene Verhalten des Gegenübers zu reagieren und selbst nicht in der aktiven Rolle zu sein. Sie erleben Konflikte als etwas, das ihnen passiert, über sie hereinbricht. Für Außenstehende ist hingegen völlig klar, dass fast immer beide Seiten gleichermaßen zur Eskalation beitragen. Jede Reaktion ist eben auch Aktion, müßig danach zu forschen, wer angefangen hat, zumal die Lösung von Konflikten in der Zukunft liegt, nicht in der Vergangenheit.

Auch wenn die Energie eine negative ist: Konflikte sind voller Energie, und zwar voll der Energie ihrer Beteiligten.

Konfliktparteien spüren dies z.B. an der Erschöpfung nach einem lauten Streit, am schnellen Herzschlag, wenn ein Treffen mit dem Gegner bevorsteht, am Kreisen der Gedanken um das Konfliktthema.

Diese Energie ist wirksam. Besonders deutlich wird das, wenn etwa in kalten Konfliktphasen der andere durch vermeintliches Nichtstun weiter provoziert wird. Selbst das Stillhalten löst Reaktionen aus und nicht selten genießen die „Nichtstuer“ und „Regeleinhalter“ das Gefühl ihrer Macht, den anderen damit weiter auf die Palme zu bringen.

Wem es gelingt anzuerkennen, dass er nicht Opfer, sondern Beteiligter eines Konfliktes ist, der erkennt die eigene Selbstwirksamkeit. Dieses Gefühl von Macht kann gefährlich berauschend sein. Die Erkenntnis der eigenen Handlungsfähigkeit ist aber auch der einzige Weg hin zu einer konstruktiven Konfliktlösung. Was ich verschlimmern kann, kann ich auch verbessern. Es liegt mit in meiner Hand, meine Kräfte für meine Bedürfnisse einzusetzen und nicht gegen einen anderen Menschen.

Konflikte sind anstrengend, denn sie kosten Kraft und Nerven. Genau damit führen sie aber vor Augen, wieviel Energie man eigentlich hat.

Konflikte sind Beziehungsangebote

Es scheint paradox, aber Konfliktparteien beschäftigen sich mit kaum einem Menschen mehr als mit der Person, mit der sie in Konflikt stehen. Fast wie bei frisch Verliebten kreisen die Gedanken und Aktionen permanent um den anderen. In enger Verbundenheit ringen die Beteiligten um gegenseitige Akzeptanz und Anerkennung.

Nur wird hier nicht, wie in einer gesunden Beziehung, mit Wertschätzung oder Liebe geantwortet, sondern mit Enttäuschung und Angst. Wunde Punkte werden besonders gern bespielt und auch vor dem Innersten nicht Halt gemacht. In Konfliktsituationen offenbaren Menschen ihre Verletzlichkeit. Und sind damit nicht selten fast so nackt wie in einer Liebesbeziehung.

Wären Konfliktparteien nicht typischerweise ich-fixiert, also konzentriert auf die Verteidigung ihrer Position und ihres Selbstwertgefühls, könnten sie den anderen Menschen in all seinen Ängsten und Bedürfnissen entdecken.

In der Mediation versucht man, die Beteiligten an genau diesen Punkt zu führen. Man versucht, durch das Freilegen und Anerkennen eigener Bedürfnisse den Blick auf den anderen frei zu machen. Das Verbindende zu finden und Empathie herzustellen, damit sie im Gegner den Menschen erkennen, der ihnen letzten Endes in seinen Grundbedürfnissen sehr ähnlich ist. Zu dem sie als Mensch in Beziehung stehen.

Konflikte sind schmerzhaft, weil sie unsere Grenzen in Frage stellen und überschreiten. Genau damit aber führen sie ganz nah an unser Gegenüber und stiften Beziehungen.

Konflikte sind das Leben

Alles in allen ist kaum von der Hand zu weisen, dass Konflikte, verstanden als Krisen, Entwicklungsmöglichkeiten bieten. Was wohlmeinende Konfliktmanager aber gerne verschweigen ist, dass Krisen immer auch das Risiko bergen, schlecht auszugehen. Das macht die Krise als Entscheidungssituation ja gerade aus.

So gesehen kann man pessimistisch den Konflikt als Risiko bezeichnen oder – wohlmeinend – als Chance. Ganz neutral plädiere ich dafür, Konflikte schlicht als Leben zu begreifen. Es gibt gute Gründe dafür, sein Leben in die Hand zu nehmen. Und folglich ebenso gute Gründe, Konflikte anzunehmen. Oder sogar zu suchen.

Christiane Baer, Warum Sie Konflikte suchen sollten, in: Anzeiger für die Seelsorge 3/2015


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