Verpieselt

Von Selbstachtung und Scham

Neulich lief ich mit vollen Einkaufstaschen in der Hand vom Supermarkt nach Hause. Ein paar Meter vor mir ging ein Mann, der plötzlich stehen blieb, seine Hose öffnete und ungeniert in den Vorgarten eines Nachbarhauses pinkelte. Ich war fassungslos. Mit Berliner Schnauze paulte ich ihn an: „Sagen Sie mal, Sie können hier doch nicht einfach hinpinkeln! Da vorne sind öffentliche Toiletten!“ Keine 100 Meter weiter vorne an der Straße waren wir gerade daran vorbeigelaufen. Er aber antwortete nur: „Da musste ick noch nich.“

Fast hätte ich gelacht. Ob der trockenen Antwort, dem scheinbar unerschütterlichen Selbstbewusstsein des Mannes, mit dem er sich zur Schau stellte oder schlicht als Übersprunghandlung. Tatsächlich beschäftigte mich noch eine Weile die Frage, wie schamlos oder vielleicht einfach nur selbstbewusst man eigentlich sein kann. Ich hätte mich in Grund und Boden geschämt, er hingegen stand breitbeinig zu seinem Bedürfnis.

Sind Schamgefühle möglicherweise ein Zeichen geringer Selbstachtung und ist umgekehrt unsere Selbstachtung besonders ausgeprägt, wenn wir uns nicht schämen? Inwiefern ist Scham überhaupt mit Selbstachtung verknüpft?

Wer schamhaft ist, gilt gemeinhin als wenig selbstbewusst. Das liegt u.a. daran, dass das Gefühl der Scham nicht nur regelmäßig mit Angst und Schuldgefühlen einher geht, sondern auch auf der inneren Bewertung „Ich bin falsch“ beruht. Manche Entwicklungspsychologen bezeichnen sie als das Gefühl, das Triebe bremst. Unbestritten schränkt Scham uns ein. Oft wird sie als Impuls erlebt, sich zu verstecken. Wer sich schämt, will nicht gesehen werden, meidet die Blicke anderer aus Sorge, so wie er ist nicht akzeptabel zu sein. Wer sich selbst so kritisiert, macht sich klein und unsichtbar und wertet sich ab, kann sich selbst also nicht besonders achten.

Im Umkehrschluss müssten Menschen, die keine Scham empfinden, besonders selbstbewusst sein. Wer selbstsicher zu sich und seinen Bedürfnissen steht, erweckt den Anschein, mit sich im Reinen zu sein und für sich einzutreten. Gemeinhin gilt das als Ausdruck hoher Selbstachtung.

Sollten wir also einfach alle unser Schamgefühl über Bord werfen und ungeniert unsere Bedürfnisse erfüllen, um unsere Selbstachtung zu stärken?

Natürlich nicht. Gewiss verweist Scham auf Kratzer im Selbstbild und wird deshalb oft als Schwäche gedeutet.

Und in gewisser Weise wird darin auch eine Schwäche offenbar. Allerdings eine ganz andere, als man auf den ersten Blick vermuten könnte. Laut dem Schweizer Psychiater und Psychotherapeuten Daniel Hell ist Scham ein Sensor der Selbstachtung – ein nützliches Gefühl, wenn es um den Aufbau und Erhalt der Selbstachtung geht. Die Schwäche, die sich mit Scham bemerkbar macht, ist demnach nicht das Schwächeln der Selbstachtung, sondern das Schwächeln unseres Anspruchs an uns selbst. Sie zeigt an, dass wir im Begriff sind etwas zu tun, das uns die Selbstachtung kosten könnte. Scham schützt das Innerste eines Menschen. Sie alarmiert uns, wenn wir in Gefahr sind, an Respekt zu verlieren und sei es unser Respekt vor uns selbst.

Ohne Scham fehlt uns die Grenze, die uns - und andere - vor Übergriffen schützt. Der Schamlose kann sich nicht vorstellen, von anderen für irgendetwas verachtet, nicht akzeptiert oder verurteilt zu werden. Sein Selbstbild mag ohne Kratzer sein. Das heißt aber nicht unbedingt, dass er mit sich im Reinen und voller Selbstachtung ist. Es könnte auch bedeuten, dass es ihm gänzlich am Blick auf die eigene Person fehlt und er gar kein Selbstbild hat. Genau diese Selbstreflexion, das Vermögen, den Blick auf uns selbst zu richten ist aber eine Stärke, weil wesentliche Säule der Selbstachtung.

Bei der Selbstachtung geht es nicht darum, auf alles stolz zu sein, alle Bedürfnisse sofort zu erfüllen und erhobenen Hauptes jede Peinlichkeit zu ignorieren. Es geht darum, Respekt vor sich selbst und der eigenen Würde zu haben – inklusive des Wunsches, diese nicht zu verlieren. So wird sich, wer sich selbst achtet, nicht ohne Not vor anderen bloßstellen oder blamieren. Und er wird Scham empfinden, wenn er sein Handeln für unvereinbar mit seinem Selbstbild hält.

Der Pinkler hat übrigens vielleicht doch mehr Selbstachtung als ich dachte. Seit dem Vorfall habe ich ihn noch ein paar Mal gesehen. Er hat sich dann jedes Mal sehr schnell und mit gesenktem Haupt verpieselt.


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