In einer Frauenzeitschrift habe ich vor Kurzem eine berührende Geschichte gelesen: Unter der Überschrift „Abschied von den Eltern“ berichtete eine Frau von einer Entdeckung nach dem Tod ihrer Mutter. In der Ecke eines Schrankes war sie auf einen Stapel bestickter Deckchen gestoßen ist. Die Handarbeiten waren wunderschön und liebevoll gearbeitet – aber scheinbar hatte die Mutter ihr Hobby ganz im Stilen gepflegt und ihre Gabe nicht an die große Glocke gehängt. Niemand aus der Familie hatte die Deckchen je zu Gesicht bekommen. Niemand hatte die Mutter je sticken sehen. Erst von einer Nachbarin erfuhr die Tochter, dass ihre Mutter nachmittags oft mit Stickzeug auf dem Schoß im Gartenstuhl saß.
Ganz abgesehen davon, dass man jetzt darüber sinnieren könnte, was es heißt, nach dem Tod neue Seiten eines lieben Menschen zu entdecken – mich bewegte (und beschämte!) vor allem die Demut der stickenden Mutter. Ein Talent haben und keine Worte darum machen. Stolz und Freude über Arbeitsergebnisse nicht herzeigen und teilen, sondern für sich bewahren, das finde ich stark. Auf die Bestätigung der Freude und auf Bewunderung zu verzichten, erscheint mir sogar mutig. Beim Nachdenken darüber, an welchen Stellen in meinem Leben es mir vielleicht gut täte, etwas demütiger zu sein, kam ich nicht umhin zu fragen: Wieviel hat Demut eigentlich mit Mut zu tun?
Um es vorwegzunehmen: Der Zusammenhang ist eng. Unterschiedlichste Erklärungsversuche weisen in diese Richtung.
Aus etymologischer Perspektive hat Demut etwas mit Dienstwilligkeit oder der Gesinnung des Dienenden zu tun. Siegbert Warwitz spricht sogar vom „Mut zum Dienen“. Was zunächst nach Unterwürfigkeit riecht, entpuppt sich auf den zweiten Blick als starkes Selbstbewusstsein. Denn Demut hat weit weniger mit Gehorsam zu tun als mit Erkenntnis.
Erich Fromm sagt, Demut sei die Überwindung des Narzissmus. Zum Narzissmus gehören eine tiefe Verunsicherung hinsichtlich der eigenen Stärken und Schwächen und ein wackliges Selbstwertgefühl. Zu überwinden ist dies nur durch das Erkennen und vor allen Anerkennen dessen, was man wirklich ist. Die eigenen Schwächen lieb haben, Grenzen und Vergänglichkeit respektieren, den Dingen wie sie sind ins Auge blicken und das Beste daraus machen – das alles ist Teil von Selbsterkenntnis. Und erfordert den Mut zur eigenen Wahrheit.
Genau das ist übrigens eine weitere Deutung des Begriffs Demut. Sie ist von Theresa von Avila. Die sagt: Demütig sein heißt in der Wahrheit zu sein. Demütig ist demnach, wer weiß, wie liebe- und gnadenbedürftig er ist. Demütig ist, wer sich mit seinen Schwächen anderen zumutet und zugleich seine Stärken und Fähigkeiten bereit ist zu teilen. Demütig ist, wer auch die Schwächen der anderen kennt und annehmen kann, ohne daran zu zerbrechen. Und wieder: Dieses Vertrauen darauf, am richtigen Platz zu sein und das Leben mit allen Möglichkeiten und Grenzen als Geschenk zu betrachten, erfordert Mut.
Demut hat nicht nur irgendwie mit Mut zu tun. Demut ist für mich nachgerade eine besondere Form von Mut. Demut ist der Mut, auf gelassene und bescheidene Art und Weise selbstbewusst zu sein. Die bestickten Deckchen der verstorbenen Mutter sind in meinen Augen eine zauberhafte Demutsgeste. Gelassen tun, was man gern tut und gut kann. Sich nicht vor der Nachbarin verstecken, sich aber ebenso wenig exponieren. Die Dinge einfach hinlegen. Und nehmen lassen, wenn sie gebraucht werden. Als Deckchen auf der Sofalehne oder als Erinnerungsstück. Ganz uneitel. Ganz still. Ganz stark. Wie wohltuend!