Von Mut und Übermut

Aktion Sorgenkind?

Meine Tochter ist 17 und entspricht wohl so ziemlich dem, was man gemeinhin als „wohlgeraten“ bezeichnet. Keine Trinkgelage oder Experimente mit Drogen, keine heimlichen Partys (oder so gut organisiert, dass ich es wirklich nicht mitbekomme), keine Modeexzesse. Nicht einmal politisch ist sie anderer Meinung als ich. Stattdessen: Gute Noten, Abi mit 17, gesunde Ernährung und die Bereitschaft, die gerade erworbenen Gummibärchen dem Bettler in der U-Bahn zu schenken.

Ich schreibe das nicht, um meine Leistung als Mutter hervorzuheben - im Gegenteil: manchmal ist mir dieses „In Spur Sein“ regelrecht unheimlich -, sondern, weil ich angesichts dieser Gegebenheiten über den Satz eines Lehrers zu meiner Tochter gestolpert bin. Ein Feedback an die Lehrkräfte, das von den Abiturienten gefordert war, hat er als „ganz schön übermütig“ bezeichnet. Muss ich mir Sorgen machen? Und wenn ja, worüber genau? Was ist denn eigentlich Übermut?

Wenn Sie den Begriff googlen werden Sie feststellen, wie vielfältig und unterschiedlich konnotiert er ist.

Im Wesentlichen lassen sich drei Bedeutungsfelder ausmachen, deren Grenzen fließend in einander übergehen.

Als die wohl harmloseste Variante erscheint dabei Übermut im Sinne einer großen Ausgelassenheit oder aufgedrehten Fröhlichkeit. Allerdings ist auch das nur bei Kindern und Fohlen wirklich positiv besetzt. Wer sich als Erwachsener lebensfroh und aufgekratzt zeigt und mit dem Begriff „übermütig“ belegt wird, erhält weniger ein Kompliment als eine leise Kritik an seiner als unangemessen erlebten guten Laune. Da meine Tochter weder Kind noch Pferd ist, dürfte die Bemerkung des Lehrers also keine freundliche gewesen sein.

Je unangemessener Fröhlichkeit und Zuversicht sind, desto mehr werden sie zum Ausdruck eines quasi überschießenden Mutes. Dieses „Zuviel“ an Mut ist die zweite Gestalt des Übermutes. Aus dem Überschwang der Gefühle entsteht hier eine erhöhte Risikobereitschaft oder Waghalsigkeit, die sich bis zur Tollkühnheit auswachsen kann. Das klingt gefährlicher als ausgelassene Lebensfreude und ist es vermutlich auch. Trotzdem bin ich geneigt, auch diese Form des Übermuts nicht nur negativ zu sehen, sondern ein wenig zu reframen:

Tollkühnheit oder gar Hasardeurismus sind Ausdruck einer Wagnisbereitschaft, ohne die eine Entwicklung der Person nicht möglich wäre. Das mit einer entwicklungsnotwendigen Grenzüberschreitung einhergehende Risiko ist für mich solange tolerabel, wie es ausschließlich die handelnde Person betrifft. Anders als Aristoteles würde ich nicht nach dem rechten Maß an Mut fragen (jenseits dessen eben Übermut oder Feigheit zu finden sind), sondern nach dem rechten Wirkungskreis. Ich räume ein, dass es schwer zu sagen ist, wie sich der ermitteln lässt. Das Feedback meiner Tochter war sehr wahrscheinlich nicht tollkühn. Wahrscheinlicher ist, dass es ein bisschen frech war. Und in der mündlichen Prüfung zu einer fiesen Prüfungsfrage führt. Das wäre vor allem blöd. Besorgniserregend wäre es dann, wenn sich in einer kessen Bemerkung die dritte Form des Übermuts verstecken würde:

Übermut wird auch als vermessenes Vertrauen in die eigenen Kräfte gesehen. Wo der Glaube an das eigene Können und Wissen zu Dünkel, Hochmut oder Größenwahn führt, sind andere Menschen betroffen. Sie werden, abgewertet durch das überhöhte Selbstbild des Übermütigen, zum Opfer einer Grenzüberschreitung und im schlimmsten Fall entwürdigt. Wären Überheblichkeit und Selbstüberschätzung das Hinterland zum Feedback meiner Tochter, wäre ich ehrlich entsetzt.

Ich stelle fest, dass meine Bemerkung, mir eine manchmal etwas ungezogene Tochter zu wünschen etwas übermütig war. Bei meiner Tochter werde ich nochmal nachhören, was genau da vorgefallen ist. Und im Zweifelsfall auch den Lehrer ansprechen. Aber erst auf der Abifeier. Da bin prüfungstechnisch auf der sicheren Seite. Womit auch klar ist: Wenn überschießender Mut Auslöser des Lehrerkommentars war, hat sie den nicht von mir.


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