Meine Tochter macht im nächsten Jahr das Abitur. Ihre spontane Antwort auf die Frage, was sie danach machen möchte, lautete „Auf den Bahamas mit Schweinen schwimmen.“. Da ich das dumpfe Gefühl habe, dass meine Anwesenheit dabei nicht erwünscht ist, bin ich dagegen. Abgesehen davon wäre mir das als berufliche Option dann doch ein wenig zu gewagt. Dabei halte ich mich eigentlich für sehr entspannt. Wichtig finde ich, dass meine Tochter etwas tut, das ihr richtig Spaß macht. Aber genau das scheint das Problem zu sein: Nach der ersten ernstzunehmenden Studienidee (Grafikdesign) kam das - wohl zumindest in Berlin unvermeidliche – „irgendwas mit Kommunikation und Medien“, relativ schnell gefolgt von Marketing, Management oder Jura. Inzwischen ist sie bei Germanistik. Irgendwie macht ihr fast alles Spaß, aber scheinbar nichts so richtig. Und auch wenn ich mir sage, dass meine Tochter eben vielseitig interessiert ist, mehr Generalistin als Spezialistin – frage ich mich, ob ich als Mutter versäumt habe, Begeisterung und Leidenschaft in ihr zu wecken.
Doch: Kann man eine Leidenschaft überhaupt wecken? Und was genau entfacht die Leidenschaft in uns?
Ich bin überzeugt, dass die meisten Leidenschaften unbewusst in uns entflammen und, wenn überhaupt, nur mühsam kopfgesteuert zu wecken sind. Ich glaube das nicht nur, weil die Erfahrung aus der Arbeit mit Führungskräften mich lehrt, dass es in der Regel eines längeren Reflexionsprozesses bedarf, wenn die Leidenschaft für den Beruf geklärt oder neu entfacht werden soll.
Ich glaube das, weil ich Leidenschaft für die Gemütsregung halte, die uns drängt, Dinge im Übermaß zu wollen und zu tun. Sie fußt auf einem Begehren, das stark damit zu tun hat, uns etwas zu verschaffen, in dem wir aufgehen können. Leidenschaft ist der emotionale Ausdruck der Tatsache, dass wir uns hingeben und über uns hinausgehen müssen, um im leidenschaftlich geliebten Tun oder im leidenschaftlich geliebten Menschen wiederaufzutauchen und uns begegnen zu können. Und Leidenschaft bewegt sich auf schmalem Grat zwischen Vernunft und Unvernunft. Es ist mindestens so schwierig, die Vernunft auszuschalten und sich bewusst dem Risiko der Unvernunft auszusetzen wie umgekehrt den Verstand wieder anzuschalten, wenn die Leidenschaft erstmal lodert.
Was man dennoch tun kann, ist genau hinzuhorchen. Wo sich etwas irgendwie richtig und gut anfühlt, liegt meist die Keimzelle einer Leidenschaft. Der Eindruck, dass „der Schuh passt“ ist ein Indiz dafür, dass man nah dran ist an Sehnsüchten und Begehren, die sich zu Leidenschaften auswachsen können. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich dieses Gefühl einstellt steigt, wenn man zumindest gedanklich unzählige Möglichkeiten durchwandert, noch besser, wenn man vieles ausprobiert. Optimal, wenn in Gestalt eines mitreißenden Menschen Hilfe von außen kommt und dazu beiträgt, blinde Flecken zu beseitigen. Leidenschaft kann geweckt werden, wenn wir unser Begehr kennen und bereit sind, Sehnsüchten unter Umständen sogar ganz unvernünftig Ausdruck zu verleihen.
So betrachtet ist meine Tochter mit den schwimmenden Schweinen vielleicht schon ganz nah dran an ihrer Leidenschaft. Falls Sie also jemanden kennen, der bereit wäre, mit mir durch einen Reflexionsprozess zu gehen und blinde Flecken zu beseitigen: Bitte melden.