Überraschend gefunden

Woran wir Selbstachtung festmachen können

Vor einiger Zeit rief mich eine Freundin an. Aufgelöst berichtete Sie von einem Streit mit Ihrem Mann. Anlass dafür war die psychologische Beratung, die sie wegen eines Konflikts auf ihrer Arbeitsstelle seit einiger Zeit in Anspruch nahm. Ihr Mann fand das unmöglich. Er hielt die Beratung für überflüssig und stellte jeglichen Nutzen in Abrede. Der eigentliche Grund für seine Kritik aber, so unsere küchenpsychologische Analyse, schien seine Eifersucht auf den Berater zu sein. Der sah nämlich nicht nur blendend aus (ich habe das im Internet überprüft), sondern hatte neben Hilfestellungen für den Konflikt im Job auch Ratschläge für andere Lebensbereiche auf Lager. Was meiner Freundin gut tat, verletzte leider ihren Mann. Und das so sehr, dass er verbal Amok lief und die ganze Ehe in Frage stellte. Nach mehreren solcher häuslichen Auseinandersetzungen hatte meine Freundin aus Angst, ansonsten ihre Ehe zu riskieren, den Beratungsprozess beendet. Weinend stellte sie fest: „Seine Kritik ist lächerlich und unbegründet, aber meine Angst ist riesig. Also bin ich eingeknickt. Ich schäme mich so. Habe ich denn jede Selbstachtung verloren?“ Ich wusste nicht was ich sagen sollte. Stattdessen fragte ich mich: Woran genau machen wir eigentlich fest, ob wir über Selbstachtung verfügen?

Selbstachtung ist ein Selbstwertgefühl, das ganz wesentlich davon abhängt, wie sehr man den Erwartungen an die eigene Person gerecht wird. Meine Freundin ist das, was man ein tough cookie nennt – sie weiß, was sie kann und was sie will, lässt sich kein X für ein U vormachen, ist zäh und zieht in der Regel durch, was sie angefangen hat. Von daher war es tatsächlich ungewöhnlich, dass sie die für sie so hilfreiche Beratung aufgegeben hatte. Mit ihrer Entscheidung, für sich zu sorgen und sich in einer schwierigen Lebenssituation Hilfe zu holen, war sie eingeknickt. Sie hatte ihr Bedürfnis nach Unterstützung zurückgestellt und einer irrationalen Angst ihres Mannes untergeordnet. Sie hatte eingelenkt, um weiteren Streit und Schlimmeres zu vermeiden. Verzicht bis zur Selbstaufgabe, das Meiden von Konflikten und Risiken – beides klassische Anzeichen für eine geringe Selbstachtung. Zudem bestand ein wesentlicher Teil ihrer Selbstachtung genau darin, sich selbst behaupten zu können. Die Erwartung an sich selbst, sich zu respektieren und beständig und furchtlos den eigenen Weg zu gehen, hatte sie enttäuscht. Auf den ersten Blick sah es wirklich so aus, als hätte sie sich aufgegeben. Beim genaueren Hinsehen aber glaube ich, sie hat die Selbstachtung nicht verloren, sondern sich in dieser Krise überraschenderweise weiter erarbeitet. Vielleicht hätte sie ohne die nötige Selbstachtung, diese Schritte gar nicht gehen können.

Sie hat einen Schritt Richtung Selbstachtung getan, indem sie bereit war, den Blick kritisch auf sich selbst zu richten. Sie hat eingeräumt, dass sie Angst hat. Dass Prioritäten in ihrem Leben anders sind, als sie lange dachte. Dass ihr die Kraft fehlt, in mehr als einem Lebensbereich in Konflikten zu stecken. Sich seiner Ängste und Grenzen bewusst zu werden ist ein zentraler Schritt der Selbsterkenntnis. Und die ist das Fundament von Selbstachtung.

Sie hat einen Schritt in Richtung Selbstachtung getan, indem sie versucht hat zu akzeptieren, was ist.

Mit dem Ausstieg aus der Beratung hat meine Freundin tapfer aufgehört zu kämpfen. Sie hat losgelassen. Vor allem aber hat sie ihre Scham überwunden und mir davon erzählt. Hat eingeräumt, wie sehr sie sich enttäuscht hat. Sie hat diese Schwäche akzeptiert.

Und dann hat sie den größten Schritt getan: Sie war ehrlich zu sich selbst. Sie hat eingeräumt, dass die Tränen weniger dem Streit mit ihrem Mann und dem verloren geglaubten Respekt vor sich selbst galten als ihrem gebrochenen Stolz. Fast ein wenig hochmütig war sie davon ausgegangen, Entscheidungen frei von Angst treffen und sich dabei stets treu bleiben zu können. Nun hatte sie erlebt, dass ihre Liebe nicht völlig unabhängig ist und ihre Angst sie bremsen kann. Sie hatte entdeckt, welche unbearbeiteten Lebensthemen sie, gut vergraben hinter Stärke und Selbstbewusstsein, mit sich trägt.

Das Verhältnis zum eigenen Ich ist ein wesentlicher Teil der Selbstachtung. Selbsterkenntnis, Selbstakzeptanz und Ehrlichkeit mit sich selbst sind die Zutaten für ein gesundes Selbstverhältnis. Meine Freundin hat gezeigt, dass sie über all das verfügt. Um ihre Selbstachtung muss sie sich, denke ich, keine großen Sorgen machen. Stattdessen besucht sie jetzt mit ihrem Mann eine Paarberatung. Sie beiden arbeiten dort an ihren gemeinsamen Ängsten. Zusammen mit einer kompetenten, aber gar nicht blendend aussehenden Therapeutin. Das haben wir vorher zusammen im Internet überprüft.


Alles zum Thema "Kolumnen, Selbstachtung" lesen.

Vorheriger BeitragNächster Beitrag