Wie man die Leichtigkeit gewinnt, wenn man sich mehr oder weniger beschwert

Übergewicht der Beschwerde

Auf einer Geburtstagsfeier kam ich neulich neben einem Mann zum Sitzen, den meine Oma vermutlich als “mehr als stattlich“ bezeichnet hätte. Groß wie ein Berg füllte er beim Eintreten den Türrahmen aus und auch bei Tisch nahm er jede Menge Raum ein. Und das nicht nur körperlich, sondern auch im Gespräch. Interessanterweise redete er gar nicht übermäßig viel. Es war die Art und Weise in der er sprach und wie er seinen Worten mit Gesten Nachdruck verlieh. Und es war seine Meckerei über alles und jeden, die seine Statements unverrückbar und das Gespräch, das auf den ersten Blick sogar ziemlich unterhaltsam schien, letztlich furchtbar schwer machte. Erfahrungen und Einschätzungen der anderen Gäste, mein Nachfragen – alles provozierte nur weitere Beschwerden. Wir konnten das Problem, die Stimmung, den Mann nicht heben. So wurde das eine Tischende immer leerer und die Küche immer voller. Der schwere Mann blieb allein zurück. Obwohl er es uns allen so schwer gemacht hatte, tat er mir leid. Und während ich ihn aus der Küche verstohlen dabei beobachtete, wie er allein sein Dessert löffelte, grübelte ich darüber nach, inwiefern wir uns und anderen mit unseren Beschwerden der Leichtigkeit berauben können.

Ungefähr seit dem 14. Jahrhundert wird der Begriff „sich beschweren“ als „Klage führen“ oder „sich beklagen“ verstanden. Vorher war das etwas anders. In der alt- und mittelhochdeutschen Version schwang im Wort „Beschweren“ der Gedanke des Bedrückens, Betrübens, Belastens und sogar Belästigens viel stärker mit.
Damit sagt das Wort ja eigentlich alles: „Sich beschweren“ kann buchstäblich als „etwas schwerer machen“ verstanden werden. Aber warum ist das so? Woher kommt das Gewicht, der Druck der Beschwerde? Weshalb stellt sich keine dauerhafte Leichtigkeit ein, wenn das Unangenehme ausgesprochen und damit abgeladen ist?

Der Zustand, der hier sprachlich so genau zum Ausdruck kommt, lässt sich wissenschaftlich erklären. Tatsächlich nämlich verändert sich das Gehirn, wenn Menschen permanent klagen. Der Gegenstand der Beschwerde ist das, was uns belastet. Es ist das Gegenteil von Leichtigkeit, das, was uns Mühe macht. Über die Manifestation im Wort gewinnt das ungute Gefühl an Masse im Gehirn. Gedanken und Emotionen führen dazu, dass zwischen den Synapsen in unserem Hirn Verbindungen angelegt werden – Trampelpfade für die Gedanken, wenn man so will. Je häufiger wir einen Gedanken denken, ein Gefühl spüren, desto enger wird die Verbindung, umso kürzer der Übertragungsweg. Das Gehirn neigt dann dazu, genau diese Gedanken häufiger abzurufen, weil sie - ganz buchstäblich – so naheliegend sind. Verschiedene Forschungen belegen, dass das Dampf ablassen daher zwar kurzfristig wohltuend, langfristig aber eher schädlich ist, denn das Hirn wird quasi auf negativ gepolt. Das Jammern und Beschweren ist ein negativer Verstärkungsprozess. Das geht soweit, dass es auch auf andere Menschen abfärbt. Über Spiegelneuronen versucht unser Gehirn, Emotionen nachzuempfinden, so dass wir uns auf den anderen einschwingen können. Wer sich also viel mit schlecht gelaunten, meckernden Menschen umgibt läuft Gefahr, auch selber sauer zu werden. Natürlich spielen immer verschiedene Faktoren zusammen, etwa die individuelle Konstitution und das weitere Umfeld. Aber etwas überspitzt gesagt, kann man sich mit ständigen Beschwerden und ausreichend Miesepetern im Umfeld eine wunderbare Depression züchten.
Tröstlich ist, dass dieser Mechanismus auch anders herum funktioniert: Wir können es uns „leicht“ machen, indem wir eine positive Einstellung gewinnen, uns auch kleine Glücksmomente vor Augen führen und Leichtes bewusst erleben und aussprechen. Das ist zugegeben schwierig, wenn man schon in der Negativ-Schleife hängt. Man kann daher auch damit anfangen, erstmal weniger zu erwarten. Weniger zu wollen. Einen gesunden Pessimismus an den Tag zu legen. Und sich damit unnötige Enttäuschungen zu ersparen.
Und wenn man auf das Meckern partout nicht verzichten kann, könnte man versuchen, aus der Beschwerde etwas Nützliches zu machen. Etwa, indem man probiert, hinter die eigene Unzufriedenheit zu schauen und (gern auch auf Papier) zu formulieren, wonach man sich eigentlich sehnt. Denn letztlich ist jedes sich Beschweren doch Ausdruck eines unerfüllten Bedürfnisses. Nur wenig wiegt schwerer als ein schwarzes Sehnsuchtsloch. Sich dies vor Augen zu führen hilft übrigens auch im Umgang mit so schweren Menschen wie dem Mann auf dem Geburtstag.


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